Institutionelle Façon für die Stadtbaukunst: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst – Anleitung zum Entwurf von städtischen Räumen (4 Bände; 2022)
Die „europäische Stadt“, die erstmals im Rahmen der IBA 1984/1987 ideologisch unterfüttert wurde und sogleich zum Instrument gesellschaftlicher Exklusionsprozesse wurde, hat sich seither zur zentralen deutschen Sehnsuchtsvokabel vieler urbanistischen Debatten entwickelt, zunächst vor allem im Rahmen des Berliner Architekturstreits für die Fraktion um den Senatsbaudirektor Hans Stimmann, dann für das von Christoph Mäckler gegründete Deutsche Institut für Stadtbaukunst in Frankfurt am Main. Auf die problematischen Verbindungen dieses Instituts in gesellschaftlich reaktionäre Kreise – etwa zum Welt-Architekturkritiker Dankwart Guratzsch, dessen ressentimentgeladene Artikel mitunter als Initialzündungen rechtsextremistischer Hasskampagnen dienen –, hat der Verfasser an anderer Stelle hingewiesen.33 Nun legt Mäckler in Zusammenarbeit mit Birgit Roth, der Wissenschaftlichen Leiterin des Instituts, ein großes Handbuch der Stadtbaukunst vor, dessen vier Einzelbände, so der Frankfurter Architekt, den angeblich „für die europäische Stadt charakteristischen Einzelelementen Stadträume, Hofräume, Platzräume und Straßenräume“ gewidmet sind [Abb. 5].34 Die Publikation stellt die beträchtlich erweiterte Fassung eines im Auftrag des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) ab 2009 genehmigten und 2012 veröffentlichten Forschungsprojektes dar, für das sich sieben deutsche Städte, nämlich Dresden, Heidelberg, Karlsruhe, Lübeck, Ludwigsburg, Regensburg und Warendorf, ihre städtischen Räume von Mäcklers Team erklären ließen. Das Handbuch der Stadtbaukunst, so der Frankfurter Architekt, stellt einen Versuch dar, „städtische Räume zu analysieren, um sie als Anleitung zum städtebaulichen Entwurf neuer Stadtquartiere nutzen zu können. Die Auswahl ist dabei rein subjektiv und ließe sich ohne Zweifel durch viele weitere charakteristische Stadträume ergänzen.“35
In der Tat kann die Auswahl als „subjektiv“ – um nicht zu sagen: erstaunlich – bezeichnet werden, und dies nicht nur deswegen, weil sich in der Publikation, die sich die „europäische Stadt“ groß auf die Fahnen schreibt, unter den 150 Eintragungen aus über 70 Städten kein einziges nichtdeutsches Beispiel findet. Die allermeisten Beispiele, beachtliche 29, stammen aus Berlin – aber kein einziges explizit von der IBA 1984/87, dem Mäcklers Institut mit der „europäischen Stadt“ seinen argumentativen Dreh- und Angelpunkt verdankt. Die zweitgrößte deutsche Stadt, Hamburg, ist mit 6 Eintragungen vertreten, München mit 10, Köln mit 3, Frankfurt am Main mit 10, Stuttgart mit 3, und Düsseldorf – immerhin Austragungsort der vom Institut organisierten „Konferenzen zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ – mit nur zwei (Carlstadt und Königsallee). Während die achtgrößte Metropole Deutschland, Leipzig, mit immerhin vier Beispielen aufwartet, wird Dortmund, die neuntgrößte Stadt (und jahrelang Mäcklers Wirkungsstätte an der Technischen Universität), mit nur einem Eintrag bedacht (Althoffstraße). Dass Duisburg gänzlich fehlt – unter den größten deutschen Städten belegt es immerhin Platz 15 –, ist vielleicht noch nachvollziehbar, aber dass das keineswegs unter komplettem Hässlichkeitsverdacht stehende Darmstadt mit seinem innerstädtischen Weltkulturerbe Mathildenhöhe völlig unberücksichtigt bleibt, erstaunt, ebenso die Absenzen Bamberg, Bayreuth, Naumburg, Paderborn, Quedlinburg, Ulm oder Würzburg, die allesamt mit UNESCO-Ehren aufwarten können. Nichtsdestotrotz feiern Mäckler und sein Team städtische Orte mit oft langer Geschichte: den Aachener Münsterplatz, die Augsburger Maximilianstraße, den Bremer Marktplatz, den Römerberg in Frankfurt am Main, mittelalterliche Blockstrukturen wie in Nürnberg am Weinmarkt oder in Regensburg entlang der Kleinen Messergasse. Den Schwerpunkt der Bände bilden dabei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Diejenigen aus der Zeit der klassischen Moderne lassen sich an einer Hand abzählen: Bruno Tauts Berliner Wohnstadt Carl Legien sowie Ernst Mays Frankfurter Siedlungen Römerstadt und Bruchfeldstraße, das war’s. Karlsruhe-Dammerstock fehlt also, ebenso Stuttgart-Weißenhof. Die Gegenwartsarchitektur ist nur dann vertreten, wenn sie sich (kritischer) Rekonstruktion verdankt (Pariser Platz in Berlin) oder ein Barockzeitalter (St.-Leonhards-Garten in Braunschweig) bzw. imaginäres 19. Jahrhundert heraufbeschwört (Da-Vinci-Straße in Heidelberg).
In seinem Programmartikel „Das Bauwerk Stadt – eine Anleitung zum Entwurf“ gibt Mäckler einige Einblicke in seine regressive Utopie, zu der insbesondere die Verschleierung von Eigentumsstrukturen gehört: „Je mehr Fassaden eine Straße einfassen, desto vielfältiger und lebendiger ist ihr Aussehen. Eine kleinteilige Parzellierung fördert zunächst also prinzipiell die Vielfalt. Umgekehrt benötigt Vielfalt aber nicht unbedingt eine Parzellierung in unterschiedliches Eigentum.“36 Zwar schreibt sich Mäckler in die Stadtbaukunst-Tradition u.a. von Camillo Sitte, Theodor Fischer und Cornelius Gurlitt ein, doch in einem Aspekt bezieht er sich auch auf die konkurrierende Rationalisierungsfraktion, wenn er mit Blick auf Josef Stübbens Publikation Der Städtebau (1890), dem neunten Band des von Josef Durm, Hermann Ende, Heinrich Wagner und Eduard Schmitt herausgegebenen Handbuchs der Architektur, schreibt: „Es bedarf deshalb moderner Haustypen, die sich in die Tiefe der Grundstücke entwickeln, um damit weniger Grund und Boden zu versiegeln, sowie gleichzeitig die Ausdehnung der Straßenlängen eingrenzen und in der Vermietung unterschiedlicher Einkommensschichten Wohnraum auf einer einzigen Parzelle anbieten können.“37 Dahin will Mäckler also zurück: weg von den langen Straßenfassaden, hin zur Pseudo-Kleinteiligkeit von „Flügelhaustypen, die sich statt in die Länge in die Tiefe des Grundstücks hinein entwickeln“.38 Das Auge soll sich nicht mehr in der visuellen Repräsentation endloser Eigentumsstrukturen und ihrer „[r]ahmenlose[n] Glasfassaden“ verlieren, sondern Halt finden „zum Beispiel auf der Oberfläche eines einfachen Kratzputzes oder an Fassadengesimsen, Fensterlaibungen und Fenstersprossen“.39 Dass derlei sich aus einem gerüttelt Maß an Modernefeindlichkeit speist, wird in Passagen wie dieser klar: „Wir benötigen am Beginn des 21. Jahrhunderts keine weißen Kuben mehr, um unser Verständnis von Demokratie zu dokumentieren! Wir benötigen auch keine Glasarchitekturen! Wir leben seit über einem halben Jahrhundert in einem demokratischen Land und sollten deshalb über eine Erneuerung dieser architektonischen Haltung nachdenken.“40 Zusammengehalten wird dies alles vom Lob auf die „europäische Stadt“, die „von ihrer Schönheit und Dauerhaftigkeit“ lebe.41
Derlei mag zwar als intellektuelle Laubsägearbeit erscheinen, doch ist es Mäckler gelungen, renommierte Architekturhistoriker zu Begleit-Essays zu bewegen. Für den ersten Band Stadträume sind hier vor allem Werner Oechslin (geb. 1944), emeritierter Ordinarius für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, sowie Thomas Will (geb. 1951), Professor für Denkmalpflege und Entwerfen an der TU Dresden, zu nennen. Ersterer ruft in seinem Aufsatz „Embellissement – Die Verschönerung der Stadt“ einen ebenso zentralen wie hierzulande ziemlich vergessenen architekturtheoretischen Begriff der französischen Aufklärung in Erinnerung. „Embellissement“ wird von Oechslin anhand der Schriften von Marc-Antoine Laugier und Pierre Patte rekapituliert, und wenig überraschend macht er deutlich, dass der Nachkriegs-CIAM-Städtebau trotz aller „Heart of the City“-Reden42 in Verschönerungsfragen eine Leerstelle aufweist. Oechslin kommt zum Schluss, dass es nun, mit der Renaissance des „embellissement“, „um die architektonische Rahmensetzung, um die konkrete bauliche Maßnahme“ gehe, „damit der öffentliche Raum von Straßen und Plätzen in adäquater Weise als Stadtquartier entstehen und in Erscheinung treten kann“.43 Auch Thomas Will stellt einen – in Deutschland nicht ganz so vergessenen – französischen Begriff der Architekturtheorie vor, um die Rede von der „europäischen Stadt“ zu substanzialisieren: das „Ensemble“. Sitte verwendete ihn bereits ausgiebig in Der Städtebau,44 und so ziemlich jedes Buch zum postmodernen Städtebau hantiert mit ihm. Doch so ganz traut Will seinem Aufwertungsversuch nicht über den Weg. In einer Fußnote bekennt er sich ganz offen zur politpropagandistischen Note, die allen Reden von der „europäischen Stadt“ zu eigen ist: „Den noch jungen Begriff will ich hier nicht diskutieren, sondern in seiner programmatischen Lesart verwenden, wie er insbesondere in der ‚Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt‘ (2007) intendiert und autorisiert ist […]. Die Kritik an dieser stadtpolitischen (nicht analytischen) Lesart als verklärendes Idealbild ist verständlich, ebenso wie die angemahnte Erweiterung auf die ebenfalls europäischen Stadtmodelle der Moderne. Diese Erweiterung würde aber genau jene Differenz verwischen, auf der die Karriere des Begriffs beruht.“45
Doch wohin führen nun das „Embellissement“- und „Ensemble“-Denken bei der Anleitung zum städtebaulichen Entwerfen, das im Zentrum des Handbuchs der Stadtbaukunst steht? Zum schnöden wie vagen „Ordnungssystem“. Dieser Begriff findet sich bei fast allen Analysen in Band 1: Über den 24 Einzelanalysen, die auf einer Doppelseite immer via Luftbild und nebenstehendem Schwarzplan mit roten Erklärungslinien vorgenommen werden, stehen fast immer Titel wie „Torplätze als Ordnungssystem“ (Berlin, Friedrichstadt) zu lesen. Oder „Der städtische Hofraum als Ordnungssystem“ (Berlin, Prenzlauer Berg). Oder „Stadtpark und Allee als Ordnungssystem“ (Braunschweig, Östliches Ringgebiet). Eingeleitet wird dieser Hauptteil mit einem Stadtbaukunst-Bingo, bei dem wahllos Schwarzpläne mit Begriffen wie „Stadträume“, „Platzräume“ und „Straßenräume“ untertitelt werden. Dem vorangestellt ist ein Warm-up-Kapitel, bei dem – wieder via Luftbild plus Schwarzplan mit knappen roten Hervorhebungen – „Beispiele von Stadtstrukturen“ vorgestellt werden mit Zuschreibungen wie „Stadt am Straßenplatz“ (Landshut), „Stadt der Haustypen“ (Münster) oder „Stadt am Wegekreuz“ (Dinkelsbühl). Dies alles wirkt höchst zufällig und ohne historischen Zugriff bzw. präzises Analyseinstrumentarium erstellt: „Fast ist man gewillt zu sagen, je deutlicher sich die weißen Zwischenräume abzeichnen, desto eindeutiger werden die Zentren der Quartiere im städtischen Raum wahrgenommen.“46
Der zweite Band Hofräume wird eingeleitet von zwei Aufsätzen: „Der städtische Block“ von Wolfgang Sonne (geb. 1965), Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund und stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst, sowie „Die Stadt – Formen und Konstanten“ von Alexander Pellnitz, Professor am Institut für Architektur und Städtebau der Technischen Hochschule Mittelhessen in Gießen. Sonne stellt in seinem Text so etwas wie den Dreh- und Angelpunkt der in den vier Bänden kondensierten Sehnsucht nach der „europäischen Stadt“ vor: den „städtische[n] Normalblock“ als Privatisierungsmaschine, der sich durch folgende Eigenschaften auszeichne: „Er ist in privatem Besitz im Unterschied zum ihn umgebenden öffentlichen Straßennetz. Er ist in mehrere Parzellen aufgeteilt, die unterschiedliche Eigentümer haben. Die einzelnen privaten Parzellen werden direkt durch die umgebenden öffentlichen Straßen erschlossen. Die Bebauung erfolgt durch einzelne Häuser auf den Parzellen. Die Häuser stehen am Blockrand und trennen damit den privaten vom öffentlichen Raum effektiv ab. Die Fassade des Stadthauses markiert die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit; sie wird von Privaten errichtet und gestaltet zugleich den öffentlichen Raum.“47 Pellnitz schließt daran mit einem Text an, der einen architektonischen Schnelldurchlauf von der Antike bis zur IBA 1984/1987 darstellt. Denn letztere habe die „jahrhundertalten Grundelemente der europäischen Stadt – Straße, Platz, Block und Hof – wieder ins Zentrum des städtebaulichen Entwurfs“ gerückt.48 Dieser Zug ins Generalisierende und Normalisierende, der einzelne Episoden zu so etwas wie anthropologischen Konstanten des Homo europaeus zu machen versucht, durchzieht das gesamte Handbuch-Projekt.
Im Projektteil finden sich 39 Beispiele, die, nach den fünf Kategorien Gewerbehof, Schulhof, Eingangshof, Wohnhof und Hybridhof geordnet,49 jeweils auf einer Doppelseite präsentiert werden, mit Grundriss und Schnitt, Luftaufnahme, einem Lageplan, einem Begleittext sowie der entsprechenden Geschossflächenzahl (GFZ). Letztere gibt an, wie viele Quadratmeter Geschossfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche zulässig sind. Die Argumentation des Bandes läuft auf die nur leichte Übertreibung „je dichter, desto besser“ hinaus. Über Alfred Messels „Reformblock“ in der Berliner Kochhannstraße ist etwa zu lesen: „Das Beispiel zeigt, wie der Hof durch den Entfall rückwärtiger Anbauten an die städtischen Häuser in seiner Fläche zu groß wird und dadurch eine gewisse Anonymität entwickelt. Der einzelne, von Flügelbauten eingefasste und einem jeden Haus individuell zugeordnete Hofraum bietet dagegen seinen Bewohnern Identität und verfügt zudem über eine bessere soziale Kontrolle. Obwohl eine klare Trennung zum öffentlichen Raum der Straße besteht, die im Hof zu einer gewissen Privatheit führen müsste, stellen die Größe und die unüberschaubare Anzahl der Anwohner des Hofs ein Problem dar.“50 Besonders hart trifft das Mäckler’sche und Roth’sche Verdikt die Siedlungen der klassischen Moderne, also beispielsweise Bruno Tauts Berliner Wohnstadt Carl Legien von 1929 oder Ernst Mays Frankfurter Siedlung Bruchfeldstraße. Über Erstere schreiben sie: „Der Hof […] bleibt […] weitgehend ungenutzt, weil er nur über den Keller erreichbar ist. Für einen Siedlungsbau unüblich und als Besonderheit anzumerken ist auch, dass alle Wohnungen, unabhängig von der Himmelsrichtung, mit Loggien in den Hof hinein orientiert sind, so dass der öffentliche Raum der Straße auf der Eingangsseite der Häuser recht leblos erscheint.“51 Und die Bruchfeldstraße wird mit folgenden Worten bedacht: „Wie in der Wohnstadt Carl Legien ist der von Wohnhäusern eingefasste Hofraum in Frankfurt Beispiel für eine gewisse Leblosigkeit und Anonymität, was unter anderem daran liegt, dass er den Häusern nicht direkt zugeordnet ist und die der jeweiligen Hausgemeinschaft vorbehaltenen Gartenparzellen nur über Kellertreppen zu erreichen sind.“52 Natürlich sollte Kritik an diesen wichtigen Wegmarken der Architekturgeschichte des 20. Jahrhundert erlaubt und auch selbstverständlich sein, aber insbesondere in Band 2 fällt auf, dass Projekte aus dem 19. Jahrhundert immer mit rosaroter Brille präsentiert werden, während auf moderne Siedlungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts tendentiell der Bannstrahl fällt.
Band 3, der dem Thema Platzräume gewidmet ist, hebt mit dem Essay „Der Platz – ein Grundelement der europäischen Stadt“ von Jan Pieper (geb. 1944) an, dem emeritierten Professor für Baugeschichte und Denkmalpflege an der RWTH Aachen. Pieper – neben Gerhard Curdes ein weiterer Aachener Hochschullehrer, der in seinem Aufsatz Camillo Sitte gegen seinen Ex-Kollegen Gerhard Fehl verteidigt – zeichnet eine große Erzählung der Architekturgeschichte seit dem 4. Jahrtausend v. u. Z., kommt aber mit einer Argumentationslinie, die ihren Ausgang bei altorientalischen Stationen wie Uruk und Eridu hat, zu dem erstaunlichen Satz: „Der städtische Platz ist […] eine europäische Erfindung, die sich nach Raum und Zeit recht präzise benennen lässt.“53 Erst mit der Entstehung der Agora – und damit dem „freien, auf eigene Rechnung wirtschaftenden und im demokratischen Verband handelnden Staatsbürger“ –,54 konnte, so Pieper, der städtische Platz entstehen. Außerhalb von Europa findet er in der Architekturgeschichte entweder gleich gar keine Plätze (in Afrika nämlich) – oder er vermag in ihnen nur „Ritualinstrumente“ für Menschenmassen zu erkennen. Die Plätze von Jaipur oder Udaipur in Indien? Nur „Architekturplätze“ mit „Aneignungen des Raums durch die versammelte Menge“.55 Plätze in China? Japan? Nur Quasi-Plätze, die städtebauliche Abbilder der „kosmischen Ordnung“ seien. Auch in dem „riesigen islamisch geprägten Stadtkulturraum, der sich vom Maghreb bis nach Indien erstreckt“, kann Pieper keinen Platz erkennen, „da das Marktgeschehen in aller Regel linear in gedeckten Basaren organisiert ist (Isfahan, Delhi, Buchara), oder es findet auf weiten, architektonisch nicht gefassten Flächen vor den Toren statt (Marrakesch).“56 Der Autor weiter: „Die in Indien und Persien ‚Meidan‘ genannten Freiflächen innerhalb der Städte (Isfahan, Delhi) sind in der Regel Distanzflächen vor Herrschaftsbauten […].“57 Dass auch die europäische Stadtbaugeschichte von Anfang an sowohl von ritualisierten Praktiken durchzogen ist als auch kosmische Ordnungsvorstellungen abzubilden und Distanzflächen von Herrschaftsbauten zu errichten verstand – dies alles ficht Pieper nicht an. Er präsentiert eine eurozentrische Exzeptionalismuserzählung, die auf tönernen Füßen steht, weil sie ihre kolonialen Quellen nicht reflektiert und die Mühe der Ebene namens Differenziertheit scheut.
Der „europäische Platz“, von Pieper mit hohldrehendem argumentativen Aufwand in die Nähe eines Geburtsortes der Demokratie gerückt, wird im Bild- und Zeichnungsteil anhand von 48 deutschen Iterationen vorgestellt. Darunter fallen auch der Münchner Königsplatz und der Ostberliner Strausberger Platz, deren signifikante nicht-demokratische Überformungs- bzw. Entstehungsgeschichte mit keinem Wort erwähnt wird. Zwei der vorgestellten Plätze – der Dresdner Theaterplatz und der Karlsruher Marktplatz – waren im Nationalsozialismus nach Adolf Hitler benannt (wenn man die Hamburger Alsterarkaden dem benachbarten Rathausplatz zuordnet, sind es sogar drei), und so gut wie alle vor 1945 fertiggestellten Plätzen verfügen über eine erwähnenswerte NS-Nutzungs- und Appropriationsgeschichte. Auch derlei wird in dem Band nirgendwo erwähnt – ebenso wenig wie die Tatsache, dass der ebenfalls präsentierte Berliner Walter-Benjamin-Platz seine formalen Anleihen von Benito Mussolinis Lieblingsarchitekten Marcello Piacentini bezieht und der für die Platzgestaltung verantwortliche Baumeister Hans Kollhoff dort mitten auf der Freifläche ein antisemitisch konnotiertes Ezra-Pound-Zitat anbrachte, welches nach viel Protest im Jahre 2020 entfernt wurde.58 Mäckler und sein Team entlocken dem dortigen Genius loci nur entpolitisierten Sermon: „Die Anmutung des Materials, seine Fügung und Oberflächenbeschaffenheit, vor allem aber die sorgfältige Ausarbeitung des architektonischen Details sind die Grundlage von Schönheit und Dauerhaftigkeit im öffentlichen Raum der Stadt.“59 Bei sieben der vorgestellten Platzräume sind in rot „ehemalige Raumkanten“ eingezeichnet: beim Berliner Chamissoplatz, beim Frankfurter Römerberg bzw. Paulsplatz, beim Kemptner Rathausplatz, beim Leipziger Marktplatz, beim Lindauer Bismarckplatz, beim Stralsunder Alten Markt und beim Weimarer Marktplatz. Zumindest bei einem Teil der Beispiele dürfte Mäcklers Rekonstruktionslust geweckt worden sein, die er in den letzten Jahren an vielen Orten in Deutschland – vor allem bei der Neuen Frankfurter Altstadt – an den Tag gelegt hatte.
Der letzte Band – Nummer 4 – ist dem Thema Straßenräume gewidmet. Hier darf Vittorio Magnago Lampugnani (geb. 1951) einleiten, der emeritierte Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. In seinem Aufsatz „Die städtische Straße“ blickt er zunächst neidisch auf das Theater, wo bis heute „die Straße ein wichtiger Ort der dramatischen Auseinandersetzung geblieben“ ist – im Gegensatz zur Architektur und Stadtplanung: „Was die künstlerische Inszenierung des Lebens der Wirklichkeit entlehnt hat, ist in Wirklichkeit selbst zunehmend verhindert.“60 Es folgt eine erwartbare Lobrede auf die Boulevards des 19. und eine Kritik am Zeilenbau des 20. Jahrhunderts: „Der Bruch in dieser neuen Entwicklung erfolgte in den 1920er und 1930er Jahren mit dem Neuen Bauen. Die unhaltbaren Lebensbedingungen des städtischen Proletariats in den ebenso ungesunden wie überbelegten Mietskasernenwohnungen des späten 19. Jahrhunderts regten die sozial engagierten Architekten an, Alternativen zur historischen Stadt zu entwickeln. In einer geschichtlich verständlichen, aber einseitigen Reaktion schienen Licht, Luft und Sonne die maßgeblichen Voraussetzungen eines gesunden, würdigen Lebens zu sein.“61 Hoffnung schöpft Lampugnani aus dem postmodernen Städtebau, wie er etwa in den 1970er-Jahren von Rob Krier am Beispiel von Stuttgart imaginiert wurde: „Die Entwürfe sehen monumentale Achsen, regelmäßig bepflanzte Alleen, lange Kolonnaden und feierlich geometrisierende Gebäude vor; sie sollen die innerstädtische Leere, die nur ‚kollektive Traurigkeit‘ erzeugt, in erlebbare Stadträume verwandeln, in denen die Bürger ‚ihre menschliche Würde‘ wiederzufinden vermögen.“62
Im Projektteil des Straßenräume-Bandes präsentieren Mäckler und Roth „vier Entwurfskategorien“, „die dem heutigen Städtebau weitgehend verloren gegangen“ seien: „die Allee im Straßenraum, die Zielgebäude im Straßenraum, die Biegung im Straßenraum und die Arkaden im Straßenraum“.63 Es folgen die Darstellungen von 37 beispielhaften Straßen mit teils sehr alter Geschichte, bei denen immer wieder die Beschwörungsformel auftaucht, deren Qualitäten „in unsere Zeit übertragen“ zu wollen.
So wird etwa über die Segringer Straße in Dinkelsbühl – einer Jahrhunderte alten Hauptstraße – ausgeführt: „In unsere Zeit übertragen, würde man den Häusern auf ihrer Rückseite einen Garten zuordnen und könnte so von einer Reihenhausanlage sprechen.“64 Analog dazu hegen die Herausgeber*innen auch bei der Altstadt von Landshut mit ihren Backsteintürmen der Kirche St. Martin im Süden der Spitalkirche Heilig Geist im Norden und der 700 Meter langen Straße zwischen Isar und Dreifaltigkeitsplatz Wiederholungshoffnungen: „Wie die Segringer Straße in Dinkelsbühl ist die Altstadtstraße in Landshut Beispiel für ein Quartierszentrum, das als stadträumliche Einheit in unsere Zeit übertragbar ist.“65 Entsprechend schreiben Mäckler und Roth über die Potsdamer Mittelstraße: „Das Erscheinungsbild der aufgereihten zweigeschossigen roten Bürgerhäuser mit geschweiften, im Detail unterschiedlich ausgeformten Giebeln, die in rhythmischem Wechsel zu traufständigen Häusern stehen, ist ein einheitliches Gesamtbauwerk, das als Beispiel aus dem 18. Jahrhundert auch heute, im 21. Jahrhundert, in sicher veränderter Architektur als identitätsstiftender Straßenraum realisierbar ist.“66 Und selbst die Ludwigstraße mitten in der Altstadt von Regensburger – eine Stadt mit immerhin rund 7.000-jähriger Geschichte – verleiht den Herausgeber*innen Übertragungswünsche: „Derartige stadträumliche Situationen sind auch im Städtebau unserer Zeit mit wenig Aufwand realisierbar, wenn Architektur und Städtebau wieder als Einheit gedacht und realisiert werden.“67 Doch wie genau derlei jahrhunderte- bzw. jahrtausendealten Weg- und Straßenstrukturen samt ihrer zumeist sakralen Zielgebäude mit „wenig Aufwand“ in die Gegenwart übertragen werden könnten, darüber schweigt sich das Buch aus.
Zusammenfassend ist über das vierbändige Handbuch der Stadtbaukunst zu sagen, dass dessen edle Aufmachung im Schuber nicht davon ablenken sollte, dass die Inhalte mehr als dürftig sind. Dass das Buch selbst einen der einflussreichsten Akteure der zeitgenössischen Sitte-Rezeption, nämlich Michael Mönninger, nicht überzeugen kann, ist in diesem Zusammenhang beachtlich.68 Die teils wie zufällig wirkenden Analysekategorien gehen eine Mesalliance mit den oberflächlichen Begleittexten der ausgewählten Beispiele ein. Eine Kombination aus Wikipedia und Google Street View ist in ihrem Informationsgehalt einzelner Stadt-, Hof-, Platz- und Straßenräume diesem Handbuch deutlich überlegen. Gefährlicher indes ist die Deutschland-Fixiertheit zentraler Akteure des Stadtbaukunst-Diskurses hierzulande, also die Selbstverständlichkeit, mit der in diesem Buch das Leitbild der „europäischen Stadt“ nur an nationalen Beispielen ausgebreitet wird. Sie muss als „methodischer Nationalismus“ (Ulrich Beck) bezeichnet werden. Gleichwohl dürfte sich dahinter ein machtpolitisches Kalkül verbergen, versteht es das Deutsche Institut für Stadtbaukunst doch gut, sich in Dutzenden von deutschen Städten mit den jeweiligen Stadtplanungsamtsleiter*innen zu vernetzen und dort für das eigene Anliegen zu werben. Gerhard Fehl hat einmal in seinem Buch Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft darauf hingewiesen, dass die Stadtbaukunst-Bewegung um 1900 der Sittes, Henricis und Gurlitts von „Volkserziehern“ aus dem Bildungsbürgertum vertreten wurde, die ihre rationalistische Konkurrenz und deren Erfolg bei Herrschenden argwöhnisch betrachteten – und „im Vertrauen auf die ‚Macht des Geistes‘ glaubten, die Welt durch Bücher und Pläne verändern zu können“.69 Sie schlossen sich daher auch nie organisatorisch zusammen.70 Das hat sich mit Mäckler doch stark geändert. Erst mit ihm und seinem Frankfurter Institut hat die Stadtbaukunst institutionell Façon erreicht. Ganz offenkundig auf Kosten einer „Macht des Geistes“, die die Stadtbaukunst vor allem nach Sitte eh nie so recht hatte.