0
Empfehlung

Ein Denkmal der Experimentalkultur

Ein Kommentar von Georg Vrachliotis zur Multihalle von Frei Otto
 

Frei Otto: Multihalle in Mannheim. Foto: © Werkarchiv Frei Otto im Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai)

Die für die Bundesgartenschau 1975 in Mannheim gebaute Mehrzweckhalle gilt als die weltweit größte Holzgitterschalenkonstruktion. Heute, über 40 Jahre später ist die Zukunft der sogenannten Multihalle ungewiss. Ursprünglich als temporäres Bauwerk geplant, wurde sie aufgrund ihrer architektonischen Bedeutung nie abgerissen und im Jahr 1998 unter Denkmalschutz gestellt.

Obwohl bereits mehrfach notdürftig saniert, befindet sich der Bau in einem bedauerlichen Zustand. Für eine Generalsanierung werden 12 Millionen Euro veranschlagt. Trotz des Status als „Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ beschloss der Gemeinderat der Stadt Mannheim im Juni 2016 mit großer Mehrheit den Abriss der Multihalle, sollte es nicht gelingen, bis Ende 2017 einen bedeutenden Betrag durch Fördermittel, Sponsoring oder ein Crowdfunding zu sammeln.

Die Begründung für den Abriss folgt einem bekannten Argumentationsmuster: zu teuer scheint die notwendige Sanierung der Konstruktion, zu unklar die zukünftige Nutzung. Architektur müsse sich nun einmal selbst legitimieren, wer würde das bestreiten? Doch die kulturelle Bedeutung von Architektur lässt sich nicht mit einer einfachen Kosten-Nutzen-Analyse berechnen, sondern entsteht erst durch die fortwährende Auseinandersetzung, auch wenn diese Jahrzehnte später und eine Portion Geduld und Engagement erfordern sollte. Im Feuilleton entfacht sich daher eine leidenschaftlich geführte Debatte um den Erhalt dieses einzigartigen Gebäudes. Mit diesem Kommentar von Georg Vrachliotis, Professor für Architekturtheorie an der Architekturfakultät am KIT und Ständiger Mitarbeiter der ARCH+, möchte ARCH+ im Vorfeld der von ihm kuratierten und von dem Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai) gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung initiierten Ausstellung „Frei Otto. Denken in Modellen“ im ZKM Karlsruhe die mediale Aufmerksamkeit von einzelnen Details wieder auf die visionäre Kraft, die noch immer von diesem Bauwerk ausgeht, lenken und für den Erhalt der Multihalle werben.

 


Anfang der 1970er-Jahre hatte das Architekturbüro Carlfried Mutschler + Partner mit dem Gartenarchitekten Heinz H. Eckbrecht den Wettbewerb für die Gesamtplanung der Bundesgartenschau in Mannheim gewonnen. Das Konzept sah die Überdachung von knapp 160 x 115 Meter Parklandschaft vor, eine in jeglicher Hinsicht anspruchsvolle Aufgabenstellung, die Frei Otto als Fachplaner des Projektes mit Hilfe eines filigranen Hängemodells bewältigen konnte — ein Modell, das, wie es Frei Otto einmal selbst formulierte, zwar „den Aufgaben entspricht, aber zugleich jene besondere Eigenschaft gesteigerter Qualität besitzt, die notwendig ist, um ein Bauwerk aus dem Bereich des Nur-Funktionalen, Nur-Ökonomischen, Nur-Technischen ohne Beeinträchtigung dieser Vorzüge in jenen Bereich zu führen, bei dem vielleicht Architektur beginnt“. Tatsächlich sah Otto in seinen Modellen kulturelle Indikatoren, die in ihrem theoretischen Potential und ihrer Bedeutung häufig über die rein physische Haptik des einzelnen Objektes hinausgingen. Denken in Modellen als imaginierter Nullpunkt einer von ihren Zwängen befreiten Architektur? Eine romantische, doch erfrischende Vorstellung, bedenkt man, aus welcher engen Bürokratisierungsmatrix sich die Architektur immer wieder von selbst befreien muss.

Als Frei Otto das Dach der Multihalle konstruierte, war er längst kein Unbekannter mehr. Mit den grazilen und scheinbar über dem Boden schwebenden Zeltstrukturen, hatte er seit den 1950er-Jahren die kollektive Sehnsucht nach einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft geweckt. Dem tradierten Ideal von Ewigkeit, Monumentalität und Repräsentation, stellte er das Temporäre und Wandelbare gegenüber – künstlerisch, technisch und sozial. Dass das keineswegs nur eine hohle Phrase war, sondern buchstäblich Methode hatte, wird erst deutlich, wenn man sich seine experimentelle Arbeitsweise vor Augen hält.

Seine Hinwendung zum Experiment basierte allerdings nicht auf einer Systematisierung von Architektur im engen Sinne der Naturwissenschaften, sondern auf der künstlerischen Interpretation von versuchsweise erzeugten Formen mittels architektonischer Parameter. Das unermüdliche Experimentieren am Modell diente der Erforschung von kausalen Zusammenhängen und als Form generierender Teil des Entwurfsprozesses gleichermaßen. Frei Otto legte damit die Grundlage für eine bis heute relevante Experimentalkultur zwischen wissenschaftlicher Beobachtung und künstlerischem Geschick, eine Form der handwerklich-intellektuellen Selbstjustierung, in der das Entwerfen sowohl individuelle Erkenntnisproduktion als auch Ausgangspunkt für einen kollektiven Diskurs über die Zukunft der Architektur bedeuten kann. Die Multihalle verkörpert diese Haltung wie kein zweites Gebäudes des 20. Jahrhunderts.


Die Ausstellung „Frei Otto. Denken in Modellen“ läuft vom 5.11.2016–12.3.2017: Ein gemeinsames Projekt des Südwestdeutschen Archivs für Architektur und Ingenieurbau (saai) des KIT und der Wüstenrot Stiftung, in Kooperation mit dem ZKM Karlsruhe.