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Empfehlung

ETH, „Objects in Mirror are closer than they appear“

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Objects in Mirror are closer than they appear beschäftigt sich die Professur Annette Spiro an der ETH Zürich mit traditionellen Konstruktionen, die im Laufe der Geschichte in Vergessenheit geraten sind. In Teilprojekten sollen deren Potentiale entdeckt und für heutige Anwendungen wieder erschlossen werden.

Beim ersten Teilprojekt geht es um die Untersuchung von Konstruktionen die durch den Einsatz kurzer Elemente aus Holz grosse Spannweiten effizient überbrücken. Im Fokus stehen dabei die sogenannten Hebelstabtragwerke und verwandte Systeme. In der Geschichte wurden diese Systeme im Zuge einer sich verschärfenden Holzknappheit oder aus beschränkten Möglichkeiten des Transports und der Montage entwickelt.

Heute sind sie wieder interessant, weil auf lokale Holzressourcen, minderwertiges Holz und auch Holzverschnitt zurückgegriffen werden kann. Die handlichen Elementgrössen erlauben zudem einen einfachen und schnellen Aufbau. Über die Beschäftigung mit diesen Techniken in der Lehre lassen sich die Zusammenhänge zwischen Struktur und Form besonders anschaulich vermitteln. In den Seminaren soll neben dem Entwerfen auch der Blick zurück gerichtet werden um Geschichte als offenen Prozess zu verstehen der viele Inspirationsquellen liefert.

Geschichte/Herkunft
Eine der ersten überlieferten schriftlichen Quellen über das Bauen mit kurzen Bauteilen findet man im Bauhüttenbuch des französischen Baumeisters Villard de Honnecourt um 1230. Dort ist ein Tragwerk dargestellt, das eine Öffnung mit Balken überdecken soll, deren Spannweite für eine durchlaufende Balkenlage nicht ausreichen würde. (Abb. 1)

Was bei Honnecourt noch als pragmatischer Vorschlag einer konstruktiven Lösung formuliert wird, erhält bei den Hebelstabwerken von Leonardo da Vinci und besonders beim Architekten Sebastiano Serlio eine zusätzliche Komponente: Die Untersuchung geometrischer und mathematischer Gesetzmässigkeiten. (Abb. 2, 3) Auch der Mathematiker John Wallis erkennt diese Gesetzmässigkeiten, welche sich aus dem Zusammenspiel zwischen Einzelteil und Gesamtsystem ergeben, und stellt in seiner 1693 erschienenen Opera Mathematica Systeme vor, die auf verschiedenen geometrischen Grundformen aufbauen. Er liefert dazu auch einen Berechnungsansatz der Verteilung der Hebelkräfte im System. (Abb. 4)

Grundlegendes Prinzip dieser Hebelstabwerke ist, dass immer mindestens 3 Stäbe gegenseitig aufeinander aufliegen und so grössere Spannweiten als die des einzelnen Stabes überspannt werden können.

Nicht immer blieben diese Tragwerke selbst sichtbar. Innovative Lösungen wurden auch im Erstellen von Lehrgerüsten im Massivbau entwickelt. Der Vorteil solcher Gerüste ist, dass man minderwertiges Bauholz verarbeiten kann um grosse Tragwerke zu erstellen. (Abb. 5)

Diese Eigenschaft macht sich der Mitte des 16. Jahrhunderts am französischen Königshof tätige Architekt Philibert de l’Orme zu Nutze und entwickelt das so genannte Bogenbohlendach. (Abb. 6) Mit diesem ist es möglich grosse Dächer kostengünstig, stützenfrei und leicht zu bedecken, was den König so überzeugt, dass er seinen Architekten anhält seine Erfindung zu publizieren. Doch trotz mehrerer Auflagen der „Nouvelles Inventions pour bien batir“ bleibt ein durchschlagender Erfolg der Bauweise sehr lange aus. Erst als 1780 in Paris der Innenhof der Halle au Blé überkuppelt werden muss wird die Konstruktion wieder einmalig angewandt. (Abb. 7) Auf diesen Bau werden schliesslich Carl Gottfried Langhans und David Gilly aufmerksam. Sie erkennen das Potential für das in jener Zeit an Bauholz knappe Preussen und publizieren die Bogenbohlendächer erneut. Ihr Einfluss auf die Architekten und die Bauakademie greift deutlich und es entstehen zahlreiche Projekte namhafter Architekten, die mit diesen Dachtragwerken entwerfen.

Letztlich ebnen die Bogenbohlendächer den Weg zu einer Weiterentwicklung, die heute unter dem Patent des Zollinger-Lamellendachs bekannt ist. Der Stadtbaurat Friedrich Zollinger spreizt für seine Entwicklung die Bohlen auf und verbindet die so die linienförmigen Bögen miteinander, woraus sich ein rautenförmiges Netz entwickelt, das auch in Längsrichtung ausgesteift ist. Da das System mit nur vier Teilen auskommt und einfach zu montieren ist, können auch minderqualifizierte Handwerker preiswerte Dächer grosser Spannweite erstellen. (Abb. 8)

 
 
 
 
 
 
 

Anwendung
Im Rahmen des Forschungsprojekts beschäftigt sich die Professur neben der Zollingerbauweise vor allem mit den Hebelstabwerken da hier noch grosses Potential zur Weiterentwicklung besteht.

Trotz der ausgiebigen theoretischen Forschung in der Vergangenheit gibt es bis heute nur wenige gebaute Beispiele von Hebelstabtragwerken. Die Gründe hierfür sind vor allem in der komplexen Geometrie und dem (Trag-)Verhalten der Konstruktion zu suchen, aber auch bei der schwierigen Ausformulierung der Knotenverbindungen wenn das System in einem grösseren Massstab umgesetzt werden soll.

Der grosse Vorteil von Hebelstabkonstruktionen ist, dass sie mit wenig Aufwand und in kürzester Zeit aus einfachen Elementen zusammengebaut werden können, ohne Gerüste oder aufwendigen Hebevorrichtungen. Mit kurzen Elementen können so grosse Strukturen aufgebaut, abgebaut und wiederverwendet werden. Sie bieten zudem die Möglichkeit, unregelmässige Grundrisse zu überspannen, sei dies als Dachtragwerk, mit einfachem Grundmodul als beliebiges Vieleck oder als flaches Tragwerk in Deckenkonstruktionen.

Ziel
Im Verlauf des Forschungsprojektes sollen die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Hebelstabsystemen in konkreten Projekten umgesetzt werden. Die Wiederbelebung von vergessenen Bauweisen soll so zu neuen Tragwerkskonzepten und holzspezifischen Bauformen führen.

Um Forschung und Lehre zu verknüpfen, sollen sowohl Entwicklung als auch Umsetzung im Rahmen des Unterrichts mit den Studierenden geschehen. Im laufenden Herbstsemester 2010 finden somit zwei Unterrichtsveranstaltungen statt, deren Inhalt eine konkrete Entwurfsaufgabe ist. Im ersten Seminar werden die Grundlagen vermittelt und in einem Entwurf für die Überkuppelung einer Treppe umgesetzt. Im zweiten Seminar soll ein am Lehrstuhl entwickeltes digitales Entwurfs-Tool bei der Realisierung eines Sommerpavillons auf dem Gelände der ETH Zürich zum Einsatz kommen. (Abb. 9)

Mittels eines RhinoScripts parametrisch erforschte Stabwerktypologien

Methode und Ablauf

Manuelle Bearbeitung
Die relativ einfachen Gesetzmässigkeiten des Systems fordern zum Experimentieren heraus. Dabei beeinflussen einige wenige Parameter die Entwicklung der Konstruktion und die gegenseitigen Abhängigkeiten können gut nachvollzogen werden.

Die „analoge“ Beschäftigung mit Hebelstabsystemen beschränkt sich aber meist auf konstant gekrümmte Systeme mit regelmässig angeordneten Stäben. Um die Gesetzmässigkeiten und die komplexen Abhängigkeiten von Hebelstabsystemen zu erfassen ist das schrittweise Herantasten mit analogen Modellen jedoch bestens geeignet. Wie die Resultate aus dem ersten Seminar zeigen, sind so erstaunliche und vielfältige Konstruktionen möglich, die es nun in grösserem Massstab umzusetzen gilt. (Abb. 10,11)

Die digitale Weiterentwicklung
Um die komplexen reziproken Abhängigkeiten der Elemente in einem Hebelstabsystem präziser zu kontrollieren, wurde am Lehrstuhl ein digitales Werkzeug in Form eines RhinoScripts entwickelt. Mit diesem Programm ist es möglich Parameter über die Struktur fliessend zu verändern und so zum Beispiel die Maschendichte, Steigung und das statische Verhalten zu beeinflussen. Im Gegensatz zur analogen Arbeitsweise können nun auch unregelmässige, chaotische Strukturen kontrolliert werden. Das Entwurfs-Tool erhöht so den Gestaltungsspielraum und die Einsatzmöglichkeiten von Hebelstabsystemen enorm. Die so entworfenen Strukturen können nun auf kontextuelle oder programmatische Anforderungen eingehen, wie Lichteinfall, unregelmässige Grundrisse, räumliche Abfolgen, etc. Diese Parametervariationen müssen sich aber immer im Rahmen des statisch Möglichen abspielen, da jeder Stab nicht nur als formgebendes sondern auch als tragendes Element am Gesamtsystem beteiligt ist (Abb. 12,13).

Das digitale Werkzeug erlaubt so, die schwierigen Zusammenhänge von Form und Konstruktion bei Hebelstabsystemen zu kontrollieren und auszureizen was diese für eine Vielzahl von aktuellen Bauaufgaben wieder interessant macht. Für die angestrebte Wiederbelebung der Hebelstabwerke ist dies ein wichtiger Schritt.

Über einen Datentransfer können die vom Programm ausgegeben Produktionsdaten für die einzelnen Elemente anschliessend auf digital angesteuerten Produktionsmaschinen gefertigt werden. Dies ist notwendig, da jedes Element und die Verbindungen anders ausgestaltet sind um auf die unterschiedlichen statischen und geometrischen Situationen zu reagieren. Dabei wurde versucht, die Knoten als möglichst einfache Holz-Holz-Verbindung mit Keilschnitten auszuformulieren, um die Einfachheit der ursprünglichen Hebelstabwerke in Aufbau und Gewicht beizubehalten (Abb. 14,15).

 
 
 
 
 
 

 

PROJEKTDATEN

Hochschule

ETH Zürich

 

Fachbereich

Fachbereich Architektur

 

Lehrstuhl

Professur für Architektur und Konstruktion, Annette Spiro

Durchführung: Udo Thönnissen, Patric Unruh, Nik Werenfels

 

Seminarart

Wahlfach, Wahlfacharbeit

 

Für wen?

Bachelor und Masterstudenten

 

Jahr: 2010/11

 

Dauer: WS 2010, Realisierung: vor. Februar 2011

 

Informationen

Professur Annette Spiro

Architektur und Konstruktion

Departement Architektur ETH Zürich

HIL G57

Wolfgang-Pauli-Str. 15

CH-8093 Zürich

www. spiro.arch.ethz.ch

Kontakt: tudo@arch.ethz.ch