ARCH+ 201/202
Haben Möbel Sex?
Fast könnte man meinen, IMM sei nicht nur eine Abkürzung von „Internationale Möbel-Messe“, sondern stehe auch für das erfrischende Kontrastprogramm „Installation Mike Meiré“. Nach „The Farm Project“, „Noises for Ritual Architecture“, „Global Street Food“ (siehe ARCH+ 191/192) und zuletzt „Revolving Realities“ überrascht der bekannte Art Director dieses Jahr mit einer weiteren unerwarteten Inszenierung, die den Reiz des Verbotenen bereits im Namen trägt: „Back Room – adults only".
Darin konfrontiert uns Mike Meiré mit der verblüffenden Vorstellung, dass Möbel ein Eigenleben, eine dunkle, triebhafte Seite besitzen könnten, welche die vermeintlichen Marketing-Gewissheiten und die DesignSicherheiten des Guten, Schönen und Wahren, die die Messe jährlich mit viel Pomp reinszeniert, in Frage stellen. Mike Meiré verwandelt seine Kölner Factory in ein schwer zugängliches Hinterzimmer, das nur über einen verwinkelten Korridor zu erreichen ist. Die räumliche Dekonstruktion ist ein Kunstgriff, der die Wirkung des Schwellenraums als Passage in eine rückwärtige, verbotene Welt maximiert. Auf diese Weise innerlich vorbereitet, betritt man den „Back Room“, der sich schnell als eindeutig sexuell konnotierter Darkroom entpuppt, in dem Ikonen der Designgeschichte wie der Wassily-Sessel von Marcel Breuer oder das Day Bed von Eileen Gray auf einmal ihre bürgerliche Glätte und Arriviertheit verlieren. Mit gezielten Eingrif fen und Codes aus dem Bondage- und SM-Kontext werden diese und weitere DesignIkonen, die heute in keiner Anwaltskanzlei oder Führungsetage als Ausweis von Geschmack und Stil-Sicherheit fehlen dürfen, plötzlich zu subversiven, sexuell aufgeladenen Fetischen. Verstärkt wird dieser Effekt der Recodierung durch den Kunstfilm „Sync“ von Marco Brambilla, in welchem der Videokünstler hunderte von Kuss und Sexszenen aus freiverfügbaren Hollywoodfilmen zu einer schnellen, hart geschnittenen Sequenz gemorpht hat. Die atemlose Percussion-Ton-Spur, die Brambilla dem Streifen un terlegt hat, tut ihr Übriges, um dem Betrachter zu suggerieren, er schaue sich eine Zusammenstellung von Pornofilmen an. Nicht umsonst kokettiert die Installation mit der Warnung: nur für Erwachsene.
Man könnte das Ganze schnell unter der Rubrik „Sex sells“ oder „PornoChic“ abheften und den er müdenden Gang zu den vermeintlichen Neuheiten der Messe fortsetzen, die in diesem Jahr, den Vorgaben der Marketingabteilungen folgend, unvermeidlich Werte wie Authentizi ät, Tradition und Klassizität als die ultimativen Trends verkaufen, die Sicherheit in einer unsicheren Gegenwart verheißen. Könnte man – wäre da nicht der spürbare Widerhaken, die dunkle, subversive Seite, welche die Installation in den Objekten zum Leben erweckt. Es geht hier nicht um die abermalige Reinszenierung der weich gespülten Ware Sexualität, die uns allenthalben nicht erst durch das Internet auf Schritt und Tritt verfolgt.
Das Interessante an „Back Room“ mit seiner Sado-Maso-Konnotation ist der Verweis auf die destruktive Seite, auf das, so der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, „Maß an Kalkül, Disziplin, Ritualisierung und dramaturgischer Organisation“ der Sexualität, die seit den Schriften des berüchtigten Marquis de Sade als letzte romantische Zuflucht einer spontanen Individualität nicht mehr taugt. „Sade“, so Böhme weiter, „entsubjektiviert die Sexualität radikal. Er ist es, der zuerst entdeckt und die Wahrheit nutzt, daß der Trieb das Allerunpersönlichste an uns ist.“ Gerade darum sei dieser geeignet, „zum Medium des triumphierenden Bewußtseins zu werden. Regie führt die Vernunft. Sie funktionalisiert und fragmentiert die Körper und besetzt sie einzig nach Maßgabe ihrer Verkoppelungswertigkeit in einer sexuellen Konfiguration.“
Der fraktale, pornografische Blick wurde also bereits am Ende des 18. Jahrhunderts erfunden – auch wenn die seit Jahren laufende Pornofizierungsdebatte uns weismachen will, das Phänomen hänge ursächlich mit dem Internet zusammen. Marco Brambillas Film „Sync“ veranschau licht auf drastische Weise das Wesen dieses pornografischen Blicks, indem er die „fraktale Reduplikation der Bilder und Erscheinungsweisen des Körpers“, wie Jean Baudrillard es einmal genannt hat, auf die Spitze treibt. Überhaupt liest sich Baudrillards Essay „Videowelt und fraktales Subjekt“ fast wie ein zwei Jahrzehnte zuvor erschienener Kommentar zu Brambillas Arbeit: „Die Pornogra phie mit ihrer extremen Promiskuität zerlegt den Körper in seine kleinsten Teile und die Gesten in kleinste Be wegungsmomente. Und unser Ver langen gilt gerade diesen neuen ki netischen, numerischen, fraktalen, künstlichen, synthetischen Bildern, weil sie alle weniger definiert sind.“
Genauso wie Sades Romane eher philosophische als pornographische Schriften sind, so handelt auch „Back Room“ in erster Linie nicht von Por nografie, sondern von der Lust der Fantasie. In Sades 1795 erschienener „Philosophie im Boudoir“ heißt es dazu: „Die Phantasie hilft uns nur, wenn unser Geist von Vorurteilen völlig frei ist: Ein einziges genügt, um sie erkalten zu lassen. … Die Phantasie ist der Feind der Norm.“ Nach de Sade gelangen wir nur über den Umweg der Fantasie zum Genuss, da her muss bei ihm jede neue Sexual praktik, wie Hartmut Böhme tref fend schreibt, „geplant, entworfen, beredet, in den Rollen verteilt, cho reographisch arrangiert und – vor allem durch ein ständiges ‚Feuer der Rede‘ belebt werden“. Denn es ist nicht der Körper, der die Fantasie stimuliert, sondern umgekehrt ent zündet erst die Fantasie „das müde Fleisch“. Man könnte fast vermuten, dass es genau diese unkeusche Frage ist, nämlich wie das müde Fleisch einer in Konventionen erstarrten Branche zu entzünden sei, die Mike Meiré immer wieder bewegt.
LITERATUR
Hartmut Böhme: „Umgekehrte Vernunft. Dezentrierung des Subjekts bei Marquis de Sade“, in: Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988.
D. A. F. Marquis de Sade: Die Philosophie im Boudoir, Hamburg1970.
Jean Baudrillard: „Videowelt und fraktales Subjekt“, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis, Leipzig 1990. www.neonoto.com/backroom