Die Seminarreihe Intermediate Unit 6 an der Architectural Association London (AA) beschäftigte mit der gesellschaftlichen Performanz architektonischer und urbaner Strukturen. Über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg untersuchte das von uns geleitete Entwurfsstudio urbane Zentren mit jeweils charakteristischen räumlichen und kulturellen Gegebenheiten, darunter Hongkong, Chongqing, Peking, Shanghai und Tokio. Die jüngsten Forschungsarbeiten zu Vietnam führten zu einer Reihe von Gestaltungsvorschlägen für die beiden größten Ballungsräume des Landes, Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt.
Vietnam bietet aufgrund seiner prägnanten und dynamischen urbanen Bedingungen einen spannungsreichen Kontext für die Recherche. Vietnamesische Städte sind schon seit Jahren von tiefgreifenden Transformationen, einem rapiden wirtschaftlichen Wachstum und dem Vordringen globaler wirtschaftlicher und kultureller Paradigmen gekennzeichnet. Jedoch scheinen die kulturellen und politischen Rahmenbedingungen Vietnams wie ein Filter zu wirken, der die sonst zu beobachtende Entwicklung hin zu einer globalen Vereinheitlichung städtischer Erscheinungsbilder deutlich beeinflusst. Die spezifische Kultur des Landes hat ihre Wurzeln im Klima, in der Geographie und einer konfliktreichen Geschichte; diese Faktoren spiegeln sich in besonderem Erfindungsreichtum, in ausgeprägter Resilienz und in einer bemerkenswerten Vielzahl an Eigenheiten wider. Diese Qualitäten artikulieren sich vielfältig in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interaktionsmustern, die sich einerseits stark auf die Form der Städte auswirken und andererseits auch zutiefst von ihr geprägt sind.
Ausgehend von Untersuchungen der öffentlichen Räume in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt hinterfragten die Arbeiten, welche (begrenzte) Rolle Architektur und Stadtplanung bei der Herausbildung solch chaotischer und komplexer Netzwerke zukommt. Als ein entscheidender Katalysator für den sozioökonomischen Austausch und die kulturelle Identität der vietnamesischen Stadt konnten von uns als Egde Spaces benannte Zwischenräume identifiziert werden. Eine unglaublich reiche und einzigartige Bandbreite von Aktivitäten spielt sich im Umkreis von offenen Plätzen, Straßen und Gassen oder zwischen den etablierten Sphären Wohnen und Arbeiten ab. Jedoch zeigt sich auch hier der rapide Wandel der Städte in Gestalt von importierten Typologien und Planungsmodellen, die unbedacht auf die komplexen Gegebenheiten Vietnams übertragen werden. Die Studenten sollten daher zunächst eine Liste gescheiterter Übernahmen fremder Typologien aufstellen, aber auch einen Katalog von landestypischen Aspekten des Klimas, der Materialien, der Kultur und der informellen Wirtschaft zusammenstellen, die eine andere, ergebnisoffenere und kontextspezifischere Architektur anregen könnten. Mit diesem Instrumentarium wurde versucht, Entwurfsansätze zu erkunden und angemessene architektonische Systeme zu konzipieren, die sich den Charakteristika der vietnamesischen Gesellschaft anpassen und so das Entstehen lebendiger neuer Zentren fördern.
Forschungsschwerpunkt: Die gesellschaftliche Performanz städtischer Strukturen
Zur Vertiefung des Seminars wurden außerdem konkrete Herausforderungen einbezogen, die sich bei vielfältigen städtebaulichen und architektonischen Projekten aus der Praxis unseres Büros Urban Systems ergeben haben. In beiden Arbeitszusammenhängen folgen die Projekte dem Anspruch, neue Methoden zu sondieren und zu erproben, die ein hochkomplexes Gefüge voneinander abhängiger Ökologien der Stadt ermöglichen. Besonderes Interesse liegt dabei in der Anwendung neuer Denk- und Arbeitsweisen (wie die hochauflösende Kartografie städtischer Räume und die Verwendung digitaler Entwurfssoftware), um Entwurfsprozesse auszulösen, die auf klar umrissene Konstellationen gesellschaftlicher, ökologischer und programmatischer Datensätze der städtischen Umwelt zugeschnitten sind. Durch diese Prozesse können Entwurfslösungen gefunden werden, die sowohl Komplexität erfassen als auch architektonische, in ein sozioökonomisches Verständnis der Stadt eingebettete Systeme erzeugen sowie Orte schaffen, die die Entwicklung des heutigen städtischen Lebens bereichern.
Die Entwurfsprozesse im Rahmen des Seminars folgten den Prinzipien des generative design. Es lässt sich eine Analogie zwischen der Entwicklung städtischer und architektonischer Typologien auf der einen und Wachstumsprozessen sowie anderen Organisationsprinzipien der Natur auf der anderen Seite beobachten. In natürlichen Systemen wirken Form, Struktur und Material aufeinander ein und deren voneinander abhängige Entwicklung lässt sich nicht durch die isolierte Analyse eines einzelnen Faktors vorhersagen. Wie sich beispielsweise Bäume in einer natürlichen Umgebung entwickeln, wird durch das Zusammenspiel ihrer Materialität, ihrer Struktur und äußerer Einflüsse wie Schwerkraft, Klima und dem unmittelbaren Umfeld bestimmt. Wenn Architekten vergleichbar effiziente und anpassungsfähige Gebäude schaffen möchten, müssen sie analog dazu sämtliche Interaktionen zwischen den verschiedenen Aspekten ihres digitalen Entwurfs berücksichtigen.
Regelbasierte Entwurfssysteme, die Vorschläge „generieren“, verbleiben heute noch meist vollständig im Digitalen und auf der theoretischen Ebene ohne lokalen Bezug. Die Forschung des Seminars entwickelte dagegen gestalterische Vorschläge und Szenarien zu anpassungs- und entwicklungsfähigen Gebäudeprogramme im Dialog mit den potentiellen Nutzern und Nachbarschaften, in den die jeweiligen Lösungen greifen sollen. Daraus entsteht innerhalb der Grenzen des entsprechenden Kontextes eine ortsspezifische Architektur, die in symbiotischer Beziehung zu ihrer Umgebung steht. Dieser Prozess geht – in Analogie zur Natur – nicht von Überlegungen zu den formalen Qualitäten des Endergebnisses aus; vielmehr schafft jeder erfolgreiche Prozess richtungsweisende Möglichkeiten, er reflektiert und erweitert die komplexe Balance aller einwirkenden Faktoren.
Kartierung öffentlicher Räume
Im ersten Trimester des akademischen Jahres 2013/14 beschäftigten sich die Studierenden den Thesen des amerikanischen Soziologen und Stadtplaners William Hollingsworth Whyte, um anhand von Kartierungen und Textarbeit Kenntnisse über soziales Verhalten im städtischen Raum zu sammeln. Whyte (1917–1990) veröffentlichte mehrere Bücher über das menschliche Verhalten in städtischen Räumen. Sein – von einem Kurzfilm begleitetes – Buch The Social Life of Small Urban Places erschien 1980; Whyte zeigt darin die Beziehungen zwischen messbaren räumlichen und materiellen Gegebenheiten öffentlicher Räume einerseits und der sich dort abspielenden Vielzahl menschlicher Aktivitäten und Interaktionen andererseits auf.
Jeder Studierende untersuchte zudem eine Reihe architektonischer Präzedenzfälle im Detail, wobei der Fokus sowohl auf den technischen Errungenschaften als auch auf dem politischen Rahmen oder dem gesellschaftlichen Kontext des jeweiligen Entwurfs lag. Zu diesen Fallbeispielen zählen auch ausgewählte Werke der japanischen Metabolisten Kisho Kurokawa und Fumihiko Maki. Anhand des Werks von Moshe Safdie, Yona Friedman, Jean Prouvé, Alejandro Aravena und anderen setzten sich die Studierenden mit „utopischen“ und realisierten Projekten auseinander, die Möglichkeiten zu direkter Beteiligung und individueller Anpassung bieten.
Parallel zu den Kartografie-Übungen und dem Zusammenstellen von Referenzen begann das Seminar mit konstruktiven Experimenten, deren Resultat der Entwurf einer bewohnbaren Struktur an den zuvor analysierten Orten war. Jedes Projekt versuchte, bestimmte soziale Verhaltensweisen durch die Steuerung von Faktoren wie die Bewegung der Menschen, Umweltqualitäten, soziale Nachbarschaftsverhältnisse oder räumliche Eigenschaften zu beeinflussen. Dies erlaubte die Untersuchung der Zusammensetzung, Struktur und Anordnung von Raum und ermöglichte es, Spekulationen darüber anzustellen, wie die Menschen auf die architektonischen Qualitäten reagieren würden.
Das Projekt Filtering Mesh von Sungbum Hong und John Kanakas integriert Sitzmöbel und eine überdachte Kolonnade, die zu spontanem Verweilen anregen und so als Katalysator für zwischenmenschliche Begegnungen dienen sollen. Diese Struktur wurde anhand von Parametern wie dem Sonnenstand, angrenzenden Nutzungen und menschlichen Bewegungsmustern digital generiert. Die Sitzplätze orientieren sich am Verkehrsfluss und die strukturellen Elemente sind so angeordnet, dass sie Blickbeziehungen erlauben. Die Größe der Öffnungen in der Überdachung ist auf den Einfallswinkel des Sonnenlichts zu jenen Tageszeiten abgestimmt, zu denen sich dort mit hoher Wahrscheinlichkeit Menschen aufhalten. Der Entwurf des Tragsystems wurde auf CNC-Fertigung und eine einfache Montage vor Ort abgestimmt, was Fachkräfte und Qualitätssicherung nahezu überflüssig machte und die abschließende Kontrolle weitgehend dem Architekten übertrug.
Nach den Vorarbeiten in London reiste die Gruppe zuerst nach Hanoi und dann nach Ho-Chi-Minh-Stadt. Es stellte sich schnell heraus, dass die „Zwischenräume“ der Stadt und insbesondere das, was wir den „Edge Space“ nennen, ein wichtiger Nährboden für sozioökonomischen Austausch und kulturelle Entwicklungen sind. Diese Räume an der Schwelle zwischen Gebäude, Gehsteig oder Gasse, Restflächen von Verkehrsflächen sind betriebsame Produktions- und Umschlagsorte. Es ist eindeutig, dass diese Edge Spaces einschließlich der Aktivitäten, die sie hervorbringen, ein integraler Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens und der kulturellen Identität Vietnams sind. Sie enthalten entscheidende räumliche, strukturelle und programmatische Informationen, die für jede Art von Eingriff ausschlaggebend sind. Edge Spaces sind ein über die ganze Stadt verbreitetes Phänomen der Nutzungsmischung, die das Entstehen informeller oder etablierter familiengeführter Lokale, Läden, Betriebe oder Ateliers begünstigt – oft befinden sie sich vor oder in den unteren Etagen von Wohngebäuden. Im Gegensatz dazu erzwingen die sterilen und starker Regulierung unterworfenen neuen Einzelhandelsflächen im Stil monofunktionaler Einkaufszentren eine unausgewogene Hierarchie, da sie Dienstleistungen, Konsum und Handel jeweils an einem Ort konzentrieren und voneinander isolieren, statt sie gleichmäßig zu verteilen. In Hinblick auf wirtschaftliche Rentabilität und kulturelle Anknüpfung wirken sie ungleich schwerfälliger als die urbanen Edge Spaces.
Ho-Chi-Minh-Stadt und Hanoi sind aufstrebende Stadtsysteme, deren Reichtum an Eigenheiten, Aktivitäten und physischen Besonderheiten sowie deren außergewöhnliche urbane Gesellschaftsordnung sehr stark durch das Zusammenspiel von anti-hierarchischen (bottom up), dezentralisierten und sich ständig verändernden Interaktionen vorangetrieben werden. Durch diese Beobachtungen trat eine der Kernfragen des Seminars zutage: Können wir als Architekten ergebnisoffene Rahmenbedingungen schaffen, indem wir den input der Nutzer während des Entwurfs- und Bauprozesses und deren anschließende Aneignung als Aushandlungsprozess zulassen, um einen Beitrag zu intelligenteren und flexibleren Gebäuden zu leisten?
Vorschläge für Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt
Während des Studienjahres entstanden im Rahmen des Seminars neun Projekte. Die Auswahl unterscheidet sich im Grad der Festlegung des Entwurfs, der Entwicklung und der Aneignung durch die zukünftigen Bewohner des Gebäudes. An dem einen Ende des Spektrums steht ein Projekt, das vorschlägt, ganze Stadtviertel durch die Partizipation und Interaktion der künftigen Bewohner zu gestalten. Das Resultat wäre eine sich dynamisch weiterentwickelnde, nutzergesteuerte Assemblage, die nachbarschaftliche Interessen, Einflüsse der umgebenden Stadt sowie klimatische Bedingungen berücksichtigt. Am eher planungsgesteuerten Ende des Spektrums stehen ungewöhnliche urbane Typologien, deren architektonische Gestaltung die künftigen Formen des Bewohnens direkt beeinflussen. Mehrere Entwürfe schlugen eine gerüstartige Tragstruktur vor, die ein gewisses Maß an Freiheit zulässt, um durch Beteiligung der Nutzer maßgeschneiderte Lösungen zu ermöglichen.
In ihrer Gesamtheit sind diese Projekte als ein alternatives Denkmodell für die städtische Entwicklung in Vietnam zu verstehen: Sie stellen verschiedene Grade an Flexibilität und Nutzerbeteiligung unter Beweis, um sich ebenjene Form intelligenter Anpassungsfähigkeit zunutze zu machen, die zuvor bei den Untersuchungen der informellen Ökonomien der Straße herausgearbeitet wurden. Die Vorschläge arbeiten auch technologische und gestalterische Innovationen aus, die ein fruchtbareres Verhältnis zwischen Alt und Neu, Informellem und Formellem, Statischem und Flexiblem oder Öffentlichem und Privatem anstreben.