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Form folgt Paragraph

Ausstellung 23.11.2017–04.04.2018,
Architekturzentrum Wien, Museumsplatz 1 im MQ

In ARCH+ 225: Legislating Architecture – Gesetze gestalten! diskutierten wir, dass Gesetze eine materielle Form haben: Nach einem einführenden Teil arbeiten wir anhand von Fallstudien heraus, wie durch Gesetze die gebaute Umwelt und die Architekturpraxis geprägt werden. Wie können wir die Auseinandersetzung mit Regularien als kreatives Unterfangen verstehen – „das heißt nicht als Restgröße, so als käme Kreativität trotz der Regeln vor, sondern als aktive Kraft, deren Kreativität innerhalb der Regeln zu suchen ist“, wie Nick Beech im Ausblick dieser Ausgabe schreibt?

Im zweiten Teil untersuchen wir das Phänomen aus der entgegengesetzten Blickrichtung und fragen, inwiefern durch Gestaltung Gesetze produziert werden. Die Argumentationslinie ruft dazu auf, die Gestaltung von Regeln als integralen Bestandteil der architektonischen Praxis zu begreifen.

Auch das Az W hat diesem Themenfeld nun eine Ausstellung gewidmet:

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Form folgt Paragraph

Wer bestimmt, wie unsere Städte und Häuser aussehen? Sind das noch die Architekt*innen und Stadtplaner*innen oder haben längst Paragraphen das Ruder übernommen? Die Ausstellung Form folgt Paragraph holt jene Regelwerke ins Scheinwerferlicht, ohne die in der Architektur nichts mehr geht. Wer macht die Regeln, was verraten sie über unsere Gesellschaft und war es früher wirklich besser? Anschaulich und konkret, kritisch und bei manchen Beispielen auch unfreiwillig komisch, so enthüllt die Schau des Architekturzentrum Wien die ansonsten unsichtbaren Hintergründe von Architektur und Stadtentwicklung.

„Mit dem Blick hinter die Kulissen des Baugeschehens wollen wir eine breite gesellschaftliche Debatte anstoßen“, so Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum Wien: „Welche Regeln braucht eine Gesellschaft, wenn sie Leib und Leben und unser Zusammenleben schützen will? Welche Regeln sind überbordend oder dienen vor allem Einzelinteressen?“ Die Kuratorin Katharina Ritter ergänzt: „Die Ausstellung soll aufzeigen, dass die Zunahme an Vorschriften das Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ist, die wir alle mitverantworten. Die Welt wird immer komplexer und der Gesetzgeber reagiert auf diese Veränderung.“

Oft hört man, dass sich eine architektonische Idee heute nur noch auf einer Papierserviette frei entfalten kann. Tatsache ist, sobald ein Entwurf konkrete Form annimmt, interagiert er mit einem Geflecht aus Bundes- und Landesgesetzen, Verordnungen, Richtlinien und Normen. Allein der Umfang der Wiener Bauordnung ist seit dem Jahr 1829 von 30 auf 140 Paragraphen und rund 20 Nebengesetze angewachsen. Besonderen Unmut ruft bei vielen Baubeteiligten die stetig wachsende Zahl an nationalen und internationalen Normen hervor. Andererseits sind gerade Normen in einer globalisierten Welt unverzichtbar – man denke nur an das DIN-A4-Blatt.

Die Ausstellung führt anschaulich vor Augen, wie sehr das Aussehen von Straßen, Häusern und Parks von Paragraph & Co bestimmt wird. In großformatigen Fallstudien können die Besucher*innen buchstäblich hinter die Fassade der Architektur blicken und erkennen, wie so manches Erscheinungsbild zustande kommt. Vergleiche mit anderen Ländern bringen zu Tage, dass ähnliche Herausforderungen in Europa teils sehr unterschiedlich geregelt werden. Schreien deutsche Kinder lauter als österreichische, bäckt der Pariser Bäcker geruchsärmer als sein Wiener Kollege oder sind die Beine anderswo kürzer? 1:1 Installationen machen die Unterschiede körperlich erlebbar und legen gleichzeitig die Frage nahe: Was sagt das Vorschriftswesen eines Landes über dessen Gesellschaft aus?

Es war eine Errungenschaft, dass die Bauordnung für Wien von 1930 den Schutz der Bürger*innen und die Fürsorgefunktion für die Schwächsten in den Mittelpunkt rückte. „Erfreulicherweise ist das Sicherheitsniveau stetig gestiegen. Wir beobachten jedoch vielerorts eine Entwicklung, in der Eigenverantwortung von Warnhinweisen abgelöst wird, wo Spielplätze für Helikoptereltern designt und Geländer allerorts höher werden“, so Kuratorin Karoline Mayer. Aber, so Kuratorin Martina Frühwirth: „Stetig steigende Sicherheits- und Qualitätsstandards machen uns offenbar nicht zufriedener. Im Gegenteil, die Wohlstandsgesellschaft ist klagefreudiger geworden.“

Zwischen Fürsorge, Eigenverantwortung und Vollkaskomentalität: Wo wird sich die Gesellschaft und somit auch das Bauen hin entwickeln? Interviews mit Architekt*innen, Projektentwickler*innen, Sachverständigen und Vertreter*innen von Behörden beleuchten die aktuelle Situation und loten Spielräume aus. In der Ausstellung können die Besucher*innen aber auch ihre eigenen Ansprüche mittels eines Tests „Welcher Sicherheitstyp sind Sie?“ überprüfen und auf einer Beschwerdewand Beispiele und Anregungen einbringen.

„Auf der einen Seite wird die Ausstellung die Architektur ein Stück weit entzaubern“, so Angelika Fitz, „aber andererseits wird gerade angesichts der Fülle an Vorschriften die enorme kreative Leistung von Architektinnen und Architekten sichtbar.“ Mal finden Architekt*innen elegante Wege, um Gesetze zu Agenten ihrer Gestaltung zu machen, mal setzen sie gemeinsam mit Jurist*innen und Aktivist*innen auf die rechtliche Aufklärung der Bürger*innen. Denn Wissen ist Macht. Und frei nach dem Motto der asiatischen Kampfkunst „Die Kraft des Gegners nutzen“, arbeiten viele Projekte aktiv mit der Logik der Gesetze und schaffen trotz oder gerade wegen der determinierenden Faktoren eine ganz besondere Architektur.