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Hey Psycho! Douglas Gordon & Florian Süssmayr

Ausstellung im Arsenale Institute for Politics of Representation, konzipiert von Wolfgang Scheppe & Mark Francis
• Castello 1430/A • Riva dei Sette Martiri • 30122 Venedig • Italien
Eröffnung 8. Mai, 2019, 17:30 Uhr,
  RSVP bei arianne.dubois@arsenale.com 
• weitere Besichtigungen mit Termin: www.arsenale.com

Erst im späten 17. Jahrhundert nahm das Wort Reflexion – aus dem lateinischen reflectere für zurückbiegen – seine charakteristische Mehrdeutigkeit an: nicht nur das Zurückwerfen von Lichtwellen zu bedeuten, sondern auch die denkende Betrachtung eines geistigen Gegenstandes oder gar des eigenen Selbst. Und auch die physische Widerspiegelung des eigenen Gesichts, die es macht, dass man die eigene Physiognomie neben der der anderen als Ausweis von Subjektivität erkennt, gibt es noch nicht sonderlich lange. Erst als in Murano – der Insel der Glasöfen bei Venedig – die Technik erfunden wurde, ein Amalgam aus Quecksilber und Zinn in glühend geblasene Sphären aus dem neuartigen cristallo genannten brillant farblosen Glas zu füllen, so dass es deren Innenfläche überzog, war es möglich, dem eigenen Selbst in einem kristallklaren, aber seitenverkehrten Widerschein zu begegnen.

Vordem widerfuhr dieser Lichtreflex dessen, der sich als Erscheinung zu beurteilen sucht, nur in den verschwommenen Abbildern, die polierte Metalloberflächen und der Wasserspiegel zu bieten vermochten – vage, dunkel und keinesfalls farbecht. Wohl für zwei lange Jahrhunderte gelang es Venedig das profitträchtige Produktionsgeheimnis und mit ihm das weltweite Monopol zu wahren. Nicht zufällig entstand in eben der Zeit, in der man unversehens zum ersten Mal dem Glanz einer getreuen Rückstrahlung der eigenen Züge gegenüberstand, auch die literarische und intellektuelle Selbsterkenntnis einer als solcher betrachteten souveränen Individualität. Die frühen Autobiographien der Renaissance etwa von Benvenuto Cellini (1500–1571) und Gerolamo Cardano (1501–1576) gehören dazu. Auch das berühmte Selbstportrait im konvexen Spiegel, das der 21-jährige Maler Parmigianino (1503–1540) 1524 von sich malte, ist unmittelbarer Ausdruck des Paradigmenwechsels der Wahrnehmung, den erst der Glasspiegel gewährte.

Überhaupt ist die große Rolle, die er im visuellen Inventar der Ikonographie der Renaissance spielt, ein deutlicher Hinweis auf die Erschütterung, die von der erstmaligen Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild zeugt. Historisches Bewusstsein und gesellschaftliche Praxis der Rolle eines selbstbestimmten Individuums als auf sich gestelltem Einzelwillen, der sein Vermögen im doppelten Sinn für sein Fortkommen einsetzt, unterstellt die Verbreitung des Spiegels und die Bekanntschaft mit dem Bild, das er einem Selbstbewusstsein von sich selbst gibt.

Mit der Entführung des Produktionsgeheimnisses aus Venedig durch Intrigen des Finanzministers Ludwigs des XIV. im Jahr 1665 setzte ein Prozess der Verallgemeinerung des zunächst magisch scheinenden Spiegelglases ein, das sich vom äußersten Luxus eines Ausweises fürstlicher Autorität und Selbstgewissheit zum gewöhnlichen Gebrauchsgegenstand des Alltags erst im 19. Jahrhundert verbreitete. Und doch koinzidiert erst mit seiner Erfindung die Bewusstwerdung des individuellen Subjekts: eine augenscheinlich gewordene Evidenz des Selbstbewusstseins.

Samuel Beckett (1906–1989) widmete dem Entsetzen im Angesicht der ersten Selbstkognition im Spiegel seinen einzigen lakonisch auch so benannten Film. In ihm gibt Buster Keaton einen Protagonisten, den man bis auf die Schlusssequenz nur von hinten sieht. Unter anderem zerreißt er Fotos, auf denen er selbst dargestellt scheint. Das Spiegelbild, vor dem er zu Tode erschrickt, starrt spiegelrichtig auf ihn zurück, worauf die unübersehbar platzierte schwarze Augenklappe pointiert hinweist.

Das Wiedererkennen schemenhafter Doppelgänger der Re-flexion in beiden Bedeutungen der Ambiguität des Worts begegnet im konzeptionellen Werk von Douglas Gordon genauso zentral, wie in der Malerei von Florian Süssmayr. Beide sprechen von Selbstportraits, wenn sie die unvermeidlichen diffusen Ebenbilder auf Stahloberflächen darstellen, wie Süssmayr das erfand, oder mit Brandlöchern versehenen Portraitfotos mit Spiegel unterlegen, wie Gordon das in seinem Werktypus Self Portrait of You + Me tut. Und bei beiden ist diese Rückwendung auf das Selbst, wie der Titel besagt, als eine erkannt, die paradoxer Weise auf ein Allgemeines verweist: Was sich in den Oberflächen abzeichnet, ist ein universeller anonymer Wiedergänger, denn unterschiedslos ein jedes Subjekt vermag sich in diesen Versuchsanordnungen wiederzuerkennen.

Darin nimmt nichts weniger als ein Begriffliches Gestalt an: Wer immer in den Spiegel blickt, er kann dies nur unter dem Gesichtspunkt des unterstellten Urteils der Anderen tun, will er begreifen, was er sieht – ich selbst als Einen neben Allen. Nur im Verhältnis zu dem, wie man die Anderen als Physiognomien beurteilt, gewinnt auch das eigene Konterfei an Bedeutung. Im Spiegel fängt sich daher allein dies: Die Implikationen der Gesellschaftlichkeit, vielleicht sogar die in Rivalität verstrickte Psychologie der Konkurrenz.

Auch der dritte Autor, der in stupender visueller Konsequenz im Wechselspiel von Gordons und Süssmayrs visuellem Regime auftaucht – Alfred Hitchcock (1899–1980) – hat seinen in luzider Logik angelegten Film Psycho (1960) als Eskalation von Spiegelbildern konstruiert. Das moralisch gerechtfertigte Identifikationsmuster der Marion Crane trifft in allgegenwärtigen Spiegeln auf repetierte Reflexionen ihrer selbst, bevor sie endlich dem verzerrten Double ihrer Schuld begegnet – dem Mörder, dessen Tun gleich dem ihren von den inneren Stimmen des Gewissens geleitet wird. Er heißt Norman und verkörpert also auch in lautlicher Homophonie das Normale. Umgeben ist diese Halluzination des Eigenen im Fremden von lauter Figuren des spiegelbildlichen Gestaltwandels, sei es der des ausgestopften Korpus der Mutter im Stofftier eines bösen Hasen. Sei es die im Drehbuch erwähnte Fliege, die ganz am Anfang den Liebesakt in der Hotelabsteige unterbricht, um ihr Abbild in der Fliege am Ende zu finden, der der in der Rolle seiner Mutter wahnhaft delirierende Norman kein Leid antun kann.

Weil es im Werk von Douglas Gordon und Florian Süssmayr mithin überraschende Berührungspunkte gibt, verspricht die gemeinsame Ausstellung besonderen Erkenntnisgewinn. Im Feld der Thematisierung des Phänomens der Spiegelbildlichkeit zeigt sich, dass beide sich der Sichtbarkeit der Welt nur über die ihrer Mediatisiertheit nähern und die Mimesis oder Nachahmung vermeintlicher Natur immer schon als falsche Unmittelbarkeit überwunden ist. In Süssmayrs Gemälden glaubt man stets die Emergenz eines Fotografischen zu beobachten, weswegen kleine zweidimensionalen Repräsentationen seiner Bilder den merkwürdigen Charakter der Ambiguität tragen, und bei Gordon sind es ohnehin die inneren Gesetze des Mediums, die in einer höheren Anschauungsform gleich einer Autopsie des Erscheinenden seziert werden. Deshalb sind beide Bildprogramme durch das offenbare Interesse am Filmischen verknüpft. Gordon versteht sich als konzeptueller Filmemacher in einer kinematographischen Praxis und Tradition. Süssmayr arbeitete lange als Kameramann, Beleuchter und sogar als Vorführer im Münchner Filmmuseum, bevor er sich einer Malerei zuwandte, deren Erträge mitunter den Begriff des film stills sogar im Titel tragen.

Darüber hinaus gibt es bei beider Arbeit Überschneidungen in der Aufmerksamkeit für die Gewalt einer kulturellen Gentrification, die das Leben hoch-kodierter Zeichensysteme in

den prekären Zonen der Großstadt betrifft und gefährdet. Zu dieser Sphäre zählt wohl auch beider Obsession für die Chiffre des Fußballspiels. Sie hat zu Hauptwerken im Œuvre sowohl von Douglas Gordon als auch von Florian Süssmayr geführt. Letzterer agierte als erfolgreicher Amateurspieler, etwas das Gordons Verkörperung des Vernakularen als Quelle seiner Produktivität entspricht. Mutmaßlich liegt hier auch die Nähe der beiden Autoren, deren prägende Jugendzeit im Kontext von Punk als subkultureller politischer Bewegung stattfand, zu einem unerwarteten Urteil Hitchcocks, mit dem er den Film Psycho enden lässt: Der, der das schließlich in der Vorstellung seiner Mutter gefangene Muttersöhnchen Norman wissenschaftlich als Psycho stigmatisiert, ist nicht ein weißbekittelter Psychiater. Es ist der bestimmt auftretende Polizist, der Vertreter der Staatsgewalt.

Für das Institute for Politics of Representation ist die Konfrontation mit den Bilderfindungen von Gordon und Süssmayr von großem Interesse, nicht nur, weil sie dessen langjährige Befassung mit der in Venedig geschehenen technologischen Hervorbringung des Spiegelbildes und seines performativen Ertrags in der Etablierung des neuzeitlichen Selbstbewusstseins berühren, sondern vor allem, weil dem, was Ernst Mach 1922 die „Lebensgewohnheiten des Gesichtssinnes“ nannte, in diesen piktorialen Ordnungen zu großer Anschaulichkeit verholfen wird.

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und der amerikanische Wahrnehmungspsychologe Joseph Jastrow (1863–1944) nahmen beide die sogenannte rabbit-duck illusion, die zuerst 1892 als Bildwitz in einem deutschen Unterhaltungsblatt publiziert worden war, so ernst, weil das instabile Kippbild es zulässt, dass man in ihm das eigene Sehen zu distanzieren und objektivieren vermag. In ihm sieht man sich zu, wie Es sieht: Die alternativen Sichtweisen des Enten- versus des Hasenkopfes schließen sich beide aus. Man kann nur das eine oder das andere wahrnehmen, nicht aber deren Gleichzeitigkeit.

Und damit ist nichts weniger bewiesen als dies: Dass man denkt, was man sieht, heißt, dass man nur erkennen kann, was man bereits gedacht hat. Sehen ist kein sensorischer Mechanismus, kein Reiz eines Sinnesorgans, sondern eine Form des Denkens.

Wolfgang Scheppe, April 2019, Venezia

Arsenale Institute for Politics of Representation