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Die Hoffnung ist jeder Enttäuschung Anfang

Über Ursula Muschelers Buch Das rote Bauhaus – Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern, Rezension von Frederick Coulomb
 


Heftiger Platzregen fällt plötzlich vom Himmel, fingerkuppengroße Regentropfen prasseln auf den Asphalt. Während die Menschen versuchen, vor dem pfeilgeraden Regen in Deckung zu gehen und unter nahegelegenen Dächern Schutz zu suchen, bleiben zwei Männer inmitten des Pariser Parks sitzen. Sie unterhalten sich, bleiben unbekümmert. „Immerhin ein Vorteil hier, die Freiheit“ sagt einer der Männer und meint damit, dass sie sich andernorts durch ihr Verhalten unlängst verdächtig gemacht hätten. Der Vorteil von Paris sei es, dass die bürgerliche Demokratie den Menschen erlaube, nach eigener Fasson unglücklich zu sein – „Il faut de tout pour faire un monde“, spricht der andere belustigt. Als der Regen aufhört, treffen beide letzte Absprachen und umarmen sich innig.

Es ist der Abschied zweier Kommunisten im Pariser Exil, irgendwann in den Wirren der späten 1930er-Jahren. Der Krieg war längst ausgebrochen, ihr Wiedersehen unklar. Einer von ihnen ist der jüdische Intellektuelle Denis, genannt Donjo, Faber. Faber, der zentrale Held in Manès Sperbers Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“, ist sich des Umfangs der geschichtlichen Katastrophe, deren Protagonist und Opfer er zugleich ist, noch nicht bewusst. Fest im Glauben, dass man noch tiefer in den Abgrund steigen müsse, um später wieder hochzusteigen, war Faber zu diesem Zeitpunkt noch voller Hoffnung – wenngleich diese schon eine schwere Bitterkeit in sich trug; die zahlreichen Fehlentscheidungen der eigenen Partei, die Brutalität in den eigenen Reihen, all das war kaum mehr wegzuwischen.

Faber steht sinnbildlich für die bittere Enttäuschung, die viele Kommunistinnen und Kommunisten des letzten Jahrhunderts erfahren mussten, als sich inmitten der drohenden Gefahr des eskalierenden Nationalsozialismus auch die eigene Partei gegen sie wendete. Kaum ein anderes Werk erzählt die Geschichte der stalinistischen Säuberungsprozesse, die von Moskau ausgingen und die allermeisten kommunistischen Parteien Europas infizierten, so eindringlich wie der erst Jahrzehnte nach seiner Niederschrift – im Kontext der Desillusionierung breiter Teile der 68er Bewegung – berühmt gewordene Roman Sperbers.

Es muss davon ausgegangen werden, dass Sperber in der Geschichte seiner Figuren, insbesondere Faber, die eigenen biographischen Erfahrungen verarbeitet. Dass die fiktive Figur des Fabers auch in der Realität ihre Entsprechung findet, lässt sich aber auch anhand der Lebensgeschichte vieler deutscher Architekten feststellen.

In ihrem Buch Das rote Bauhaus – Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern erzählt die Architektin und Autorin Ursula Muscheler die Geschichte vieler Kinder des Bauhauses, die, in der UdSSR Zuflucht suchend, um ihre Hoffnung beraubt wurden. Dabei beginnt die Migration der deutschen Architekten in den roten Osten schon weit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In unterschiedlichen Wellen zog es spätestens seit Mitte der 1920er-Jahren vor allem Fachleute – darunter Architekten, Ingenieure und Planer – in die Sowjetunion. Viele von ihnen suchten ihrer misslichen ökonomischen Lage im von Krisen und Arbeitslosigkeit geplagten Deutschland zu entkommen. Viele wollten nicht weniger, als beim Aufbau des Sozialismus mitwirken. Und alle wollten sie: bauen. 

Dass dies jedoch kein leichtes Unterfangen werden würde, bekamen insbesondere die Anhänger des Neuen Bauens zu spüren, deren Migrationsgeschichte Muscheler anhand verschiedener Biografien der „Gruppe May“ und der „Bauhaus-Stoßbrigade Rot Front“ nacherzählt. So scheiterten viele der deutschen Architekten an der sowjetischen Bürokratie – und an den ästhetischen Ansprüchen ihrer russischen Genossen, verschmähten diese doch die Nüchternheit und Funktionalität des Bauhaus-Stils als kapitalistische Dekadenz, die nur dazu dienen würde, im Sinne der Profitlogik Baukosten zu einzusparen. Ihre Vorstellung sozialistischer Architektur war eine andere: nicht Nüchternheit und Funktionalität, sondern Monumentalität und historisierende Formen sollten den sozialistischen Realismus stalinistischer Provenienz ausmachen. 

Die Überlebensstrategien der Bauhäusler angesichts der kargen Auftrags- und Versorgungslage waren dabei höchst unterschiedlich. Ein Hannes Meyer etwa, Kopf der Bauhausbrigade und seit seiner Absetzung am Dessauer Bauhaus in der Sowjetunion, verwarf die Prinzipien des Neuen Bauens zugunsten einer neoklassizistischen Formsprache und versuchte sich in Anpassung und Selbstkritik: „Wer im ideologischen Getriebe überleben wollte, machte sich am besten unsichtbar [...] oder bekannte sich rückhaltlos und öffentlich zum neuen Parteigeist“, so Muscheler über Meyer, der trotz aller Bemühungen und vermutlich aus Geldnöten 1936 die Segel strich und die Sowjetunion wieder verließ.

Tatsächlich verließ ein Großteil der ausländischen Architekten spätestens Mitte der 1930er das Land. Manche von ihnen kehrten zurück in das nationalsozialistische Deutschland, andere setzten ihre Migrationsgeschichte, wohlwissend um die Repression, die ihnen in Deutschland drohte, fort. Ernst May zog es nach Britisch-Ostafrika, wo er als Farmer neu anfangen wollte. Bruno Taut, der seit 1932 in der Sowjetunion war und „unter keinen Umständen“ Opportunist werden wollte, landete über Stationen in Deutschland, der Schweiz und Japan schließlich in der Türkei. Für all diejenigen, die im Land des Sozialismus blieben, verschärfte sich die Lage zunehmend. Der „Große Terror“ war im Gange und traf nicht selten auch überzeugte Kommunisten, denen man Spionage und Verrat vorwarf. Kurt Meyer wurde 1936 verhaftet und nach Sibirien deportiert, wo er 1944 starb. Dessen Frau, Gertrud Meyer, wurde 1938 an die Gestapo ausgeliefert. Ebenfalls 1938 wurden Margarete Mengel, die einen gemeinsamen Sohn mit Hannes Meyer hatte, sowie Antonin Urban verhaftet und erschossen. Philipp Tolziner, ehemaliges Mitglied der Stoßbrigade, wurde verhaftet und in ein Lager deportiert.

Es sind diese einzelnen Schicksale, die Ursula Muscheler empathisch und fast romanartig, dabei zugleich nüchtern und fest auf dem Boden zahlreicher Quellen erzählt. Zusammengenommen verdichten sie sich zu einer Geschichte, die an Tragik kaum zu überbieten ist und die auch die spätere Gebrochenheit eines Fabers verständlich macht: Kommunisten, die ohne Ort in der Geschichte waren, verloren im Gefüge der Zeit. Und dennoch: Die allermeisten der Bauhausbrigadisten blieben der Idee des Sozialismus treu. Hannes Meyer betätigte sich kommunistisch im mexikanischen Exil, wenngleich er den dortigen Genossen als Querulant galt und auch mit anderen kommunistischen Exilanten eher Schwierigkeiten hatte – eine Rolle, die er Zeit seines Lebens beibehalten sollte. Viele andere fanden im neuen sozialistischen Deutschland ihre politische und architektonische Heimat, auch wenn die Ausrichtung auf Moskau das Neue Bauen auch in der DDR zunächst diskreditierte. Und selbst Philipp Tolziner, der so viele Jahre seines Lebens in einem sowjetischen Lager verbrachte und wusste, „dass der Sozialismus, wie er in der Sowjetunion aufgebaut worden sei, auf ungenügenden Konzepten und brutaler Gewalt beruht habe“ (Muscheler), hielt die Idee des Sozialismus noch kurz vor seinem Tod für richtig. Faber, gegen Ende des Romans: „Wir sind verloren, aber die Sache selbst ist unverlierbar. Wir waren Nachfolger, wir werden Nachfolger haben.“

Gerade im Bauhausjahr 2019 ist die Lektüre von Das rote Bauhaus außerordentlich gewinnbringend – selbst, wenn das eigentliche Erscheinungsdatum schon etwas zurückliegt. Schließlich ist die hegemoniale Geschichtsschreibung des Bauhauses furchtbar geradlinig, man möchte gar sagen: unpolitisch. Muscheler ist es deshalb an einer Repolitisierung des Bauhaus-Narrativs gelegen, wenn sie darauf verweist, dass die Rot-Front-Brigadisten „die Welt über das Ästhetische hinaus“ neu gedacht haben – und das unter Einsatz ihres Lebens. „Nicht die bekannten Architekten sind die eigentlichen Helden dieser Erzählung, sondern diejenigen, die bis heute weitgehend unbekannt, ihr Leben für ihre Überzeugungen einsetzten“ schreibt Muscheler bereits im Prolog des Buchs. Will man die Geschichte des Bauhauses erzählen, so muss man auf dessen Ränder schauen.
 

Das rote Bauhaus – Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern
Ursula Muscheler
gebunden, 144 Seiten
Berenberg Verlag, 2016
€ 22