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Experimenteller Schulbau jenseits der Logik des Rasters

Text von Adrian Leander Pöllinger

Online-Beitrag zu ARCH+ 233: Norm-Architektur – Von Durand zu BIM

2017 richtete das Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen der Universität Kassel im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt a. M. das Symposium Norm-Architektur – Von Durand zu BIM aus, auf dessen Basis 2018 die gleichnamige ARCH+ 233 erschien. Eine Auswahl von zusätzlichen Konferenzbeiträgen veröffentlichen wir nun erstmals online.

Eugène Beaudoin, Marcel Lods, Ecole de pleine air, Suresnes 1932–35; Foto: Adrian Leander Pöllinger 2016
Eugène Beaudoin, Marcel Lods, Ecole de pleine air, Suresnes 1932–35; Foto: Adrian Leander Pöllinger 2016

1952 veröffentlichte das französische Bildungsministerium ein ministerielles Rundschreiben, in dem für alle Schulbauten ein Grundraster mit einer Seitenlänge von 1,75 Meter sowie standardisierte Pläne festgelegt wurden. Dieses Maß blieb bis zum Ende von Jean Prouvés aktiver Karriere relevant. Im Rückblick schrieb er 1971:

„Die typisierten Pläne und Normen mussten natürlich respektiert werden, denn zu jenem Zeitpunkt (nach dem Kriege) war es undenkbar, eine neuartige Schule mit modernster Technik zu erbauen. Diese Art von Schule hätte ja die Umwelt, in der unsere Kinder ihre Tage verbringen und wo ihre Sensibilität geformt wird, total umgestaltet. […] Leider hat in Frankreich der Erbauer von Schulen keinen offiziellen Kontakt mir Pädagogen, sondern nur mit den behördlichen Kontrollorganen. Mit großem Bedauern respektierte man also die Normen für die sofort ausgeführten Werke, ohne jedoch die parallel dazu in völliger Freiheit betriebenen Forschungen zu unterbrechen.“[1]

Die folgenden Beobachtungen sind Teil einer fortlaufenden Forschungsarbeit zu Schulgebäuden von Jean Prouvé und spüren seiner ganz eigenen Definition von Standards und Masterplänen nach, indem sie vier Momente in dieser Entwicklung hervorheben: von der Zusammenarbeit mit den Architekten Eugène Beaudouin und Marcel Lods am Projekt der Freiluftschule in Suresnes (1931–1934) bis zur École Nomade (1957). Prouvé setzte Gebäudetypen, Konstruktionsraster und Standardelemente abweichend von den Erwartungen des französischen Staats sowie von den Vorstellungen anderer Architekt*innen und Bauunternehmen ein. Da Prouvé zunächst nur wenig über seine Arbeit schrieb, erschließt sich die Wahl seiner Methoden, die er am Anfang seiner architektonischen Karriere traf, nur durch die Projekte und Kooperationen.

 

Einen „Typus“ definieren – Organismen, Zellen und Wände

In den 1920er-Jahren ermutigten die Forderungen fortschrittlicher Pädagogen und Ärzte moderne Architekten dazu, neue Standardklassenzimmer und Gebäudetypen zu entwickeln. Dabei wurden nicht nur die Räume verändert. Wie der Gebrauch von Fachtermini speziell aus der Biologie zeigt, vollzog sich auch ein Wandel der mit Typen verbundenen Vorstellungen. Beim Entwurf eines Standardklassenzimmers für eine Berliner Gesamtschule, die alle Schularten vom Kindergarten bis zur Sekundarstufe einschloss, konstatierte Bruno Taut, dass diese Vereinigung zu einem „Organismus“ den Blick auf die räumliche Lösung der einzelnen „Zelle“ lenken werde. Dieser grundlegende Typus sollte 65-mal wiederholt werden.[2] Für Taut war das Schulgebäude „die Hülle des Schulbetriebs“.[3] Um einen Eindruck von den technischen Qualitäten des gestalteten Raums zu bekommen, wurde eine „Zelle“ – der Prototyp eines Klassenraums – gebaut. Dieser sollte der einzige ausgeführte Teil des Projekts bleiben, das zunächst von konservativen Kräften in der Verwaltung verzögert und nach der Machtergreifung von den Nationalsozialisten gestoppt wurde.

Eine ähnlich funktionalistische Haltung lässt sich bei Jean Prouvés erstem ausgeführtem Schulentwurf finden. In den frühen 1930er-Jahren fungierte er als Berater für den Bau von Marcel Lods‘ und Eugène Beaudouins berühmter Freiluftschule. In ihrer endgültigen Fassung wurden die jeweiligen Klassenraumeinheiten dadurch betont, dass sie in individuellen Pavillons getrennt untergebracht waren. In einem Artikel, der 1944 unter dem Titel „De la paroi“ (Von der Wand) erschien, betonte Marcel Lods die Rolle trennender Elemente in der Architektur, die er unter dem französischen Wort „paroi“ (dt. Wand) als Oberbegriff zusammenfasste: die Innen- und Außenwände, Möbel, Decken, Dächer und so weiter. Ähnlich wie Tauts Bild vom Raum als Zelle oder Hülle evoziert auch Lods‘ Wortwahl – zum Beispiel „Epidermis“ für die Außenhülle – das Bild eines lebenden Organismus: „Die Rolle der Wand besteht darin, unter den jeweiligen Bedingungen die Unabhängigkeit oder wechselseitige Abhängigkeit der Volumen, die sie trennt, sicherzustellen.“[4] Lods fügt eine Liste der Dinge hinzu, die durch trennende Elemente isoliert sein sollten (Geräusch, Temperatur, Druck, Licht, Elektrizität und so weiter) und betont damit, dass ein Typus nicht auf einen Plan reduziert werden könne, sondern mit Blick auf derartige Anforderungen gebaut werden müsse.

Der mit Prouvé entwickelte Klassenraum steht exemplarisch für dieses Verständnis. Auf dem Grundriss ist der Klassenraum eine funktionale Sequenz aus drei Räumen: einem Eingangsbereich, dem Klassenraum und einem zweiten Klassenzimmer unter freiem Himmel, das nur von einer Hecke umschlossen ist. Auf der technischen Ebene regulieren zwei Installationen den Austausch des Klassenraums mit der Umwelt: die raumhohen Falttüren und das ausgefeilte Heizungssystem. „Wenn das Wetter schlechter wird, schließt sich der Pavillon. Eine nach der anderen werden die drei bis dahin offenen Seiten mit Glaswänden geschlossen, die mithilfe einer Kurbel wie eine Ziehharmonika zusammen- und auseinandergeschoben werden können. Bei Regen und Wind werden ein oder zwei dieser beweglichen Trennungen in die gewünschte Richtung gebracht. Im Winter werden alle drei ausgefahren und der Raum ist geschlossen.“[5]

Die Türen waren Weiterentwicklungen bereits bestehender Modelle, wie denen, die Prouvé für Tony Garniers Rathaus in Boulogne-Billancourt (1931–1934) entwickelt hatte. Später ließ das ausführende Unternehmen eine veränderte Version patentieren. Deren Innovation sollte dabei in dem „Kontrollmechanismus liegen, der eine bessere Verteilung der Kräfte auf alle Scheiben, aus denen die Tür besteht, gewährleistet“.[6] Unklar ist, ob die für Suresnes ausgeführten Türen auch unter das Patent fielen. Doch die Hoffnung, die Nutzenden würden ermutigt, den Raum ständig den Wetterbedingungen anzupassen, indem sie die Fassaden öffneten und schlossen, wurde wegen mechanischer Mängel schnell enttäuscht. Das Heizungssystem besteht aus einer Fußbodenheizung und einem zusätzlichen Luftschleier entlang der beweglichen Fassade.[7] Während Luftschleier schon in den Eingängen öffentlicher Gebäuden mit viel Publikumsverkehr installiert worden waren, scheint die „unsichtbare Wand“ der Schule eine Erweitertung des Anwendungsgebiets gewesen zu sein und erinnert an Corbusiers „mur neutralisant“ (zweischalige Glasfassade mit dazwischen zirkulierender Luftschicht) und seinem Belüftungssystem „respiration exacte“.[8] Prouvé führte die systematische Ausarbeitung des Standardtyps nach der Ausführung der Schule von Suresnes fort und entwickelte ein Modell, dass ausschließlich aus leichten, vorgefertigten Elementen bestand.[9]

Prouvés spätere Versuche gingen nie so weit wie die von Bruno Taut, dessen Prototyp nicht nur gebaut wurde, um die technischen Teile des Gebäudes, sondern auch die Lehrmethoden in und um das Schulhaus zu testen. Dennoch hat diese frühe Erfahrung seine ganz eigenen Standards für die Ausarbeitung eines neuen Gebäudetyps beeinflusst.

 

Prouvés Einsatz von Rastern

Im Januar 1950 wurden die Ateliers Jean Prouvé von den drei französischen Architekten Arati, Boyer und Lestrade beauftragt, eine Vorstudie für die Metalldachkonstruktion eines Schulgebäudes in Martigues bei Marseille zu erstellen. Die daraus entstandene Zusammenarbeit zeigt beispielhaft Prouvés Abweichung von den typischen Lösungen, die zeitgenössische Bauunternehmen anboten. Die Architekten hatten gemeinsam mit einem Ingenieur einen Satz aufwändiger Pläne und Schnittzeichnungen mit detaillierten baulichen Anweisungen entwickelt. Die vier Klassenräume sollten von einer beachtlichen 2,45 Meter hohen Fachwerkkonstruktion überdacht werden. Das Dach sollte außen mit einem Material, das in Frankreich unter dem Namen „Ruberoid“ (verlegefertige Asphaltbahnen) vertrieben wurde, sowie mit „Acieroid“ (Metalldachpaneele) gedeckt werden. Die enorme Höhe der vorgeschlagenen Dachkonstruktion, die einen ungenutzten Raum umschloss, muss für Jean Prouvé eine Provokation gewesen sein; in der Folge wird er die Stärke der gesamten Konstruktion auf 25 Zentimeter reduzieren.

 
 
 

Doch nicht nur die Dachkonstruktion wurde überarbeitet. In der Folge wurden alle Dimensionen denen angepasst, mit denen die Ateliers Jean Prouvé arbeitete. Der erste Entwurf für die Schule sah unterschiedliche Modulgrößen für jeden einzelnen Gebäudeteil vor. Die annähernd quadratischen Klassenräume (7,45 Meter mal 7,95 Meter) wurden für die Hauptfassade in Module von 2,65 Meter unterteilt, während für die Innenwände Module von 2,90 Meter und 1,96 Meter zum Einsatz kamen, die beide nicht mit dem Raster der Fassaden korrespondierten. Die Längen der geschlossenen Fassadenstruktur in Mauerstein ergeben sich aus der Größe der Innenräume und der Wandstärke. Statt sich auf ein eindimensionales System zu verlassen, entstand dieses Gebäude aus einer Mischung von vorgefertigten Bauteilen und traditionellen Bauweisen.

Schon eine frühe Studie von Jean Prouvé zeigte eine radikale Übersetzung dieses Systems in ein grundlegendes 1-Meter-Raster. Nun passten die Fassadenelemente und Türen zu den Innenwänden und zur Dachkonstruktion. Beinahe das gesamte Gebäude wurde in Elemente übertragen, die von den Ateliers Jean Prouvé hergestellt werden konnten. Nur ein paar Innenwände wurden noch mit als Bruchsteinmauerwerk errichtet und trennten die Fertigteile voneinander. Der Einsatz eines übergreifenden Rasters, das in den Bauelementen direkt aufgegriffen wurde, unterschied sich nicht von anderen Fertigbauten. Doch Prouvé beschränkte sich nicht auf die einmal eingeführten Dimensionen. Die folgende Entwicklung der École Standard (Standardschule) zeigt eine Vielzahl von Rastermaßen von 1,050 Meter (Schule in Placieux, 1941, und Schule in Saint Avold, Ende 1951) über 1,128 Meter (École Standard, Februar 1952) bis zu 1,120 Meter (École Standard, Juli 1952). Diese Veränderung ist auf die Breite der Aluminiumrollen zurückzuführen, die zu jener Zeit als Dachbedeckung in Gebrauch waren, und auf ihr Verhältnis zu den standardisierten Klassenraumgrößen.[10]

 

Modulationsversuche

Die Maße in Prouvés Arbeit ergeben sich nicht nur aus den vom französischen Staat vorgegebenen Standards und den verwendeten teils vorgefertigten Bauteilen. Ein interessantes Dokument über den Einsatz von Größensystemen findet sich im Archiv der Ateliers Jean Prouvé. 1950 erstellte ein unbekannter Autor die Studie „Essais de Modulation affichable à la préfabrication” (Modulationsversuche für Fertigteile).[11] Zu dieser Zeit stand die Produktion der Ateliers unter der Aufsicht neuer Finanziers aus der französischen Aluminiumindustrie, die darauf hinwirkten, die Produktion der Ateliers auf eine bestimmte Anzahl von Komponenten beschränkten. Aufgrund des Drucks, die Vielfalt der Produkte zu begrenzen und Forschung- und Innovation aufzuhalten, verließ Jean Prouvé, die Ateliers schließlich. Das erwähnte Dokument kann keinem der alten Mitarbeiter aus den Ateliers oder der neuen aus den Reihen der Finanziers eindeutig zugeordnet werden. Es ist aber eine interessante Betrachtung der Rolle, die die Maßsysteme im Bereich der Vorfabrikation spielen.

Der Autor beginnt seine Betrachtungen mit Beobachtungen zur Rastergröße von 120 Zentimeter und führt Argumente für die Nutzung dieser Dimensionen an. Unter dem Punkt „Rechtfertigung aus Sicht der Technik“ schrieb er:

1. Exakte maximale Belastbarkeit der tragender Konstruktionen

2. Durchschnittliche Größe der Paneele

3. Breite der Metall-, Hartfaser- und Gipsplatten

Die „Rechtfertigung aus Sicht der Planung“ hebt die bereits bestehende Etablierung desselben Moduls im französischen Wohnungsbau hervor.

In einem zweiten Schritt zielt der Autor auf eine „harmonische Steigerung“ ab, die durch die Ergänzung der Rastergröße durch einige individuelle Elemente erreicht werden soll. Dazu wird eine zweite Größe von 195 Zentimeter eingeführt, die in Verbindung mit 120 Zentimeter den goldenen Schnitt ergibt. Und schließlich wird dieses Maßpaar auf Grundlage der Fibonacci-Folge erweitert: 315, 195, 120, 75, 45, 30, 15. Dabei bildet 195 die Mindesthöhe des Schnitts. Die bis dahin gebräuchliche Standardgröße von 105 Zentimeter könnte in unterschiedlichen Kombinationen erreicht werden: 45 + 60 Zentimeter, 75 + 30 Zentimeter oder 90 + 15 Zentimeter.

Sicherlich war Prouvé nicht besonders an der abstrakten Beschäftigung mit Größen und ihrem Zusammenspiel interessiert. Die meisten ästhetischen Entscheidungen sollten beim Zeichnen von Hand oder bei der Beurteilung eines Prototyps getroffen werden. Dennoch weist der Text einige der typischen Argumente auf, die vorgebracht werden, um Prouvés Entscheidungen für bestimmte Größen zu erklären, besonders im Zusammenhang mit typischen Materialgrößen wie Aluminiumcoils. Sie könnten daher als ein Teil von Prouvés ständiger Arbeit mit Größenverhältnissen betrachtet werden.[12]

 

Das 1,75-Meter-Raster und Jean Prouvés Antwort darauf

Am 1. September 1952 veröffentlichte die Comission du Plan d'Equipement scolaire, universitaire, scientifique et artistique (Planungskommission für die Ausstattung von schulischen, universitären, wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen) den Bericht über eine einjährige Studie, deren vorrangiges Ziel es war, „so viele Bestandteile eines Schulgebäudes wie möglich“ zu bestimmen.[13] Dabei wurde das quadratische Raster mit 1,75 Meter Seitenlänge eingeführt. Das französische Bildungsministerium erklärt seine Entscheidung für diese Rastergröße kurz und knapp: „Das Raster musste für Teile von Schulen, Nebenräumen und Wohnungen anwendbar sein.“ Die Größe von 1,75 m entsprach den minimalen Dimensionen in diesen Programmen, besonders denen für „Schlaf-, Sanitärräume und Erschließungsflächen“.

Die Entscheidung für 1,75 Meter statt 1,80 Meter – ein Maß, das durch 2, 3, 4, 5, 6, 9 und 10 teilbar gewesen wäre – wurde mit der Raumverschwendung begründet, die sich in den Dimensionen der Klassenräume ergeben würde. Dennoch wurde das Raster in den folgenden Jahren auf 1,80 Meter, später auf 3,60 Meter und schließlich auf 2,70 Meter verändert.[14]

Die sich aus dem Raster ergebende Größe des Klassenraums war 6,35 Meter (viermal 1,75 Meter, minus Wandstärke und Tiefe der Garderobe) mal 8,60 Meter (fünfmal 1,75 Meter minus Wandstärke) oder 54,61 Quadratmeter. Ein Klassenraum für 40 Schüler in einer Grundschule sah für jeden Schüler 1,35 Quadratmeter vor, eine Verringerung um 0,15 Quadratmeter im Vergleich zu früheren Standards.[15]

Am 30. Mai 1953 gab Jean Prouvé offiziell seine Stelle als Präsident der Ateliers auf. In den folgenden Jahren blieb er den Ateliers aber weiterhin verbunden und erarbeitete eine Reihe von Studien. Eine Studie vom 17. Juli 1953 schlägt drei verschiedene Schulbausysteme vor, die auf die „tatsächlichen Baugegebenheiten in Frankreich reagieren: reduzierte Budgets, minimale Flächen und vom Ministerium vorgegebene Standards“.[16] Dennoch ignorierten die Architekten in Prouvés Team – Carim, Nardin and Oudot sowie Martha Villiger, die für die Möbel zuständig war – die Größenstandards und nutzten ein Raster von 1,13 Meter. Erst der dritte Entwurf nimmt das Raster des Ministeriums an und zeigt eine sehr einfache Aufteilung basierend auf dem Standardprofilstahl und flachen vorgefertigten Dachelementen. Die beiden anderen Entwürfe befassen sich mit den Möglichkeiten der Möbelanordnung. Beide Entwürfe sehen einen linearen Raum vor, der in beide Richtungen unbegrenzt verlängert werden kann. Der Innenraum wird durch die Positionierung der Möbel gegliedert: Ein aus zwei Teilen zusammengesetzter Schrank kann genutzt werden, um den Klassenraum – entsprechend der Vorgaben des Ministeriums –. vom Korridor abzutrennen. Alternativ kann man den Schrank in Sideboards teilen, um diese frei aufzustellen. So kann die Fläche des Korridors dem Klassenzimmer zugeschlagen werden („classe agrandie“, vergrößerte Klasse), woraus sich eine Vielzahl an Möglichkeiten für Gruppenarbeit ergeben.

1956 eröffnete Prouvé ein neues unabhängiges Büro, „Les constructions Jean Prouvé“. Eines der ersten ausgeführten Projekte war ein System aus Schulpavillons, die École Nomade, die Prouvé für die Gemeinde Villejuif bei Paris entwickelte und wie folgt beschrieb:

„Unsere Klassen wurden auf der Basis der Module des Bildungsministeriums entwickelt, das heißt 1,75 m. Jede Klasse besteht aus 5 x 4 Einheiten plus einem Gang von 1,75 m, und hat damit eine Größe von 8,75 x 8,75 m = 76,50 m². Die Deckenhöhe beträgt 3,25 m. […] Dieses Bausystem lässt die unterschiedlichsten Programme zu, denn es reicht aus, immer dieselben vorgefertigten Elemente zusammenzustellen, nur die Gesamtzahl der einzelnen Elemente variiert.“[17]

Das mache es leicht, „von der Vision eines Elements mit einer Größe von 8,75 m x 1,75 m, getragen von einem einzelnen Balken, zu der eines vollständigen Gebäudes zu kommen, das z. B. 8,75 m x 75,25 m groß ist“.[18] Die meisten Bilder, die von dieser Schule veröffentlicht wurden, zeigen den großen offenen Raum, der nur bestand, bis die Platten installiert wurden, die die einzelnen Klassenräume abteilten. Doch wird der Entwurf zusammen mit dem der Studie von 1953 gelesen, kann die École Nomade tatsächlich als Kritik an den strengen, von der französischen Verwaltung vorgegebenen Standards verstanden werden. Die Auswirkung des 1,75-Meter-Rasters auf die räumliche Verteilung wurde auf ein Minimum reduziert und es wurde zu einer flexiblen Unterteilung der Halle ermutigt.

Der innovative Charakter des Baus drückt sich also in den „paroi“ aus, den Elementen, die den Innen- vom Außenraum trennen. Die große Spannweite des Daches wird mit elegant gebogenen Sperrholzplatten erreicht und die Fassade ist mit einem einfachen, aber kompakten und funktionalen Lüftungssystem ausgestattet:

„Die Fassaden sind vollständig verglast. In regelmäßigen Abständen, alle 1,75 m, finden sich Stützen aus gefalteten Blechen, zwischen denen die Verglasung befestigt ist. Diese Stützen sind im Querschnitt V-förmig, ihre Öffnungen zeigen nach außen. In sie sind gleichmäßig verteilte Öffnungen gebohrt, die für die Belüftung sorgen. Die Öffnungen können mit Klappen aus extrudiertem Aluminium, die mit einer Dichtung ausgestattet sind, mehr oder weniger verschlossen werden und lassen so die Luftzufuhr nach Wunsch kontrollieren.“[19] Diese Stützen rufen die Bemühungen in Erinnerung, Bautypen zu entwickeln, die nicht nur pädagogische Paradigmen reflektieren, sondern auch mögliche Lösungen für räumliche und umwelttechnische Aufgaben bieten. Dass diese ständig neu hinterfragt werden müssen, zeigt sich im komplexen Werk der Schulgebäude, die Jean Prouvé hinterlassen hat.

 

 

 

[1], Benedikt Huber und Jean-Claude Steinegger: Jean Prouvé : une architecture par l’industrie = Architektur aus der Fabrik = industrial architecture, Zürich 1972, S. 135f

[2] Bruno Taut: „Die Probeklasse der Neuköllner Gesamtschule“, in: Bauwelt 46 (1928), S. 1092

[3] Bruno Taut: „Der neue Schulbau“, in: Das Schulhaus 24/ 1&2 (1929/30), S. 161

[4] Marcel Lods: „De la paroi“, in: L’Architecture Française 5/44–45 (1944), S. 23

[5] Brunon G. Guardia: „L’école de plein air de Suresnes“, in: Chantiers 7 (Dezember 1934), S. 908

[6] Ateliers Gilon Bayet & Chasles: Porte à vantaux multiples articulés, Patent Nr. 814.215 (1936)

[7] Weitere technische Details sind hier beschrieben: François Rougeron:L’école de plein-air de Suresnes, EPFL Lausanne 2017, S. 41 ff.

[8] L. M. Diaz, R. Southall: „Le Corbusier’s Cité de Refuge: historical & technological performance of the air exacte. Vortrag bei „Le Corbusier, 50 Jahre später“, Universitat Politecnica De Valencia, Valencia, 18.–20. November 2015

[9] Catherine Coley und Jean-Claude Bignon : Jean Prouvé, entre artisant et industrie 1923–1939, Nancy 1990, S. 95

[10] Raphael Labrunye: „Jean Prouvé ou l’impossible industrie“, in: Le Visiteur (11, Mai 2008), S. 60

[11] Ateliers Jean Prouvé, MNAM-CCI, 230 J 130, Sammlung des Service Architecture des Centre Pompidou, Paris.

[12] Aleyda Resendiz-Vazquez: L’industrialisation du bâtiment: le cas de la prefabrication dans la construction scolaire en France, 2011, S. 149 f.

[13] Ministère de l’éducation Nationale: Bâtiments d’enseignement – Schémas types, Paris 1952

[14] Antoine Prost: „Jalons pour une histoire de la construction des lycées et collèges de 1960 à 1985“. In: Lycées, Lycéens, Lycéennes, Paris 2005, S. 461

[15] Bulletin des Bildungsministeriums, veröffentlicht am 15. Januar 1927, S. 47 ff.

[16] „Ecoles préfabriques. Etude Jean Prouvé“, 1953. MNAM-CCI, 230 J 154, Sammlung des Service Architecture des Centre Pompidou, Pari

[17]Descriptifs des éléments industrialisés pour le bâtimet“, MNAM-CCI, 230 J 141, Sammlung des Service Architecture des Centre Pompidou, Paris

[18] S. Pascaud (1957). „Le groupe scolaire léger de Villejuif“. In: Acier, Stahl, Steel, November, 11, S. 455

[19] „Descriptifs des éléments industrialisés pour le bâtimet“, MNAM-CCI, 230 J 131, Sammlung des Service Architecture des Centre Pompidou, Paris

 

 

Lektorat: Nicole Minten-Jung