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ALTE SCHULE / NEUE SCHULE

Das ehemalige Diesterweg-Gymnasium im Brunnenviertel: Vom Experimentalbau der 1970er zum offenen Bildungscampus?
Diskussionsveranstaltung, 12. August 2019, 18:30 Uhr
ExRotaprint, Projektraum „Glaskiste“, Gottschedstraße 4, 13357 Berlin

Das ehemalige Diesterweg-Gymnasium wurde in den späten 1970ern als wegweisende räumliche Fusion von Quartierszentrum und Schule im Brunnenviertel, dem größten Westberliner Kahlschlag-Sanierungsgebiet, errichtet. Eine markante Architektur mit modularer Fassade in leuchtendem Orange von Pysall-Jensen-Stahrenberg (1974–77) vereinte soziale und kulturelle Räume für das Quartier wie eine Stadtbibliothek, Veranstaltungsräume und Sporthalle mit einem neuartigen offenen Raumkonzept für ein Oberstufenzentrum. Durch innere und äußere Wege verband der Komplex die umliegenden Wohnstraßen und schuf vielfältige Nutzungsbereiche nicht nur für den Schulalltag, sondern für die gesamte Nachbarschaft. Er prägt bis heute das Bild des Viertels und bildet einen wichtigen städtebaulichen Bezugspunkt. Das Gebäude wurde jedoch vorknapp 10 Jahren in Zeiten leerer Kassen und sinkender Schülerzahlen vom Bezirk Mitte als Schule aufgegeben und steht seither leer.

Die stadtteilbasierte Initiative ps wedding setzt sich seit 2012 dafür ein, den Bau als Quartiers- und Nachbarschaftszentrum in freier Trägerschaft zu reaktivieren und in Teilen als sozial gebundenen Wohnraum umzunutzen. Dieses Vorhaben erhielt breite Zustimmung auf bezirks- und stadtpolitischer Ebene. Doch obwohl die Übertragung des Grundstücks im Erbbaurecht 2018 bereits eingeleitet wurde, drängt der Bezirk aktuell auf Abriss und den Neubau einer Sekundarschule als alleinige Nutzung, in Reaktion auf neue Schulbauprogramme und schwankende Schülerprognosen. Um die verschiedenen Bildungsbedarfe zu vereinen, entwickelte ps wedding ein Campuskonzept: Es sieht vor, den Bau als multifunktionales Zentrum im Quartier mit einer Vielfalt von Bildungsangeboten bereits kurzfristig neu zu beleben, und parallel dazu Wohnraum, eine Kita und eine neue Sekundarschule zu schaffen. Dieses Konzept ermöglicht eine ressourcenschonende Integration in die bestehende urbane Situation und den Erhalt der einzigartigen, stadtteilprägenden Architektur. Über diesen Vorschlag wird in den Sommermonaten an einem Runden Tisch auf Bezirks- und Landesebene verhandelt. Sollte dieser scheitern, könnte der Abriss des prägnanten Gebäudes schon in wenigen Monaten beschlossene Sache sein und eine langfristige Leerstelle in einem Quartier hinterlassen, in dem ein dringender Bedarf nach allgemein zugänglichen und umfassenden Bildungsangeboten besteht. 

Zeitgleich zum Streit über Reaktivierung oder Abriss diskutiert am HKW das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Bildungsschock“ den Bau als Beispiel für die Architekturen und Technologien des Lernens der späten 1950er bis 1970er-Jahre, „einer Epoche beispielloser Reform- und Expansionsanstrengungen des globalen Bildungsbereichs, […] die von heute aus wie ein uneingelöstes Versprechen erscheinen kann, wie ein vergessener Fundort für Konzepte von Bildung und Raum.“ (Tom Holert, Projektkonzept 2019). Welche Potenzialeeine Koproduktion in der Entwicklung städtischer Räume durch zivilgesellschaftliche Initiativen bietet, wenn diese ernstgenommen und verlässlich einbezogen werden, bildet auch ein Kernthema in der Forschung und Lehre derHabitat Unit / Fachgebiet für internationalen Städtebau am Institut für Architektur der TU Berlin.

Die Diskussionsrunde setzt folgenden Fragen auseinander, die durch den Konflikt um das ehemalige Diesterweg-Gymnasium aufgeworfen werden:

– Wie aktuell sind die experimentellen Raumkonzepte der 1970er-Jahre, die in dem Gebäude als multifunktionales Zentrum für Bildung und Kultur materialisiert sind?

– Wie können die architektonischen und räumlichen Ressourcen des erhaltenswerten Schulbaus als städtebaulicher Bezugspunkt und soziales Zentrum der Nachbarschaft reaktiviert werden? 

– Wie kann eine wiederholte Kahlschlagpolitik und ausschließlich monofunktionale Nutzung des Grundstücks in einem Quartier mit eklatantem soziokulturellen Bedarf verhindert werden?

– Wie können lokale Akteur_innen in die Entwicklung und Programmierung zeitgemäßer Bildungslandschaften einbezogen werden?

– Was können Initiativen von unten zur Schaffung von Wohnraum, sozialen und kulturellen Strukturen für die Stadtentwicklung leisten, wenn sie in Politik und Verwaltung verlässliche Partner finden?

– Wie können in einer sich rasant verdichtenden Stadt vielfältige soziale und kulturelle Bedarfe in Einklang gebracht werden – leistbarer Wohnraum, Schul- und Kitaversorgung, soziale und kulturelle Infrastrukturen jenseits kommerziellen Verwertungsdrucks?

Mit:
Tom Holert, Kurator des Ausstellungs- und Forschungsprojekts „Bildungsschock. Architekturen und Technologien des Lernens, 1958–1980“ am HKW, Berlin
Sabine Horlitz und Oliver Clemens, ps wedding
Angela Million, Professorin für Städtebau, TU Berlin, mit Arbeitsschwerpunkt lokale Bildungslandschaften 
Viviane Schmitt, Leiterin Kinder- und Jugendbereich des Olof-Palme-Zentrums im Brunnenviertel, Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin 
Jörg Ewald, SV Rot-Weiß Viktoria Mitte 08 e.V.
Gregor Harbusch, Architekturhistoriker 
Fee Kyriakopoulos, Stattbau Stadtentwicklungsgesellschaft mbH
Robert Burghardt, Stadt von unten
Theresa Keilhacker, Initiative wem-gehoert.berlin
Philipp Misselwitz, Professor für internationalen Städtebau, Habitat Unit, TU Berlin
Moderation: Elke Beyer, Habitat Unit, TU Berlin

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Kontakt/Organisation:
Elke Beyer und Anke Hagemann, Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen
e.beyer@tu-berlin.de
anke.hagemann@tu-berlin.de

Habitat Unit|Fachgebiet Internationaler Städtebau
Technische Universität Berlin
Institut für Architektur
Strasse des 17. Juni 152
10623 Berlin
www.habitat-unit.de

Links und Berichte:
pswedding.de
Mai 2015 Bauwelt
Oktober 2018 Baunetz