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Mehr Mut zur Wirklichkeit. Zum Tod von Dietmar Steiner, Gründungsdirektor des Architekturzentrum Wien (AzW)

Von Georg Vrachliotis

„Steiner schläft! Keine Störung!“ stand handschriftlich auf ein kleines gelbes post-it geschrieben, das auf der Tür von Dietmar Steiners Büro im Architekturzentrum Wien klebte. Als ich den kleinen Zettel während meines Besuchs im Februar 2016 entdeckte, konnte ich es mir nicht verkneifen und machte im Vorbeigehen ein Foto. Es war eine Situation, die viel über die Lebenslust und den Humor jenes Menschen erzählte, den man nicht bei seinem Vornamen, sondern liebevoll und anerkennend den „Steiner“ nannte. Tatsächlich galten Augenblicke der Ruhe im Alltag am AzW als selten. Es gab einfach zu viel, was aus seiner Sicht noch getan werden musste. Wenn es um Architektur ging, hat Steiner sich nie geschont. Und es ging eigentlich immer um Architektur in seinem Leben, ob als unermüdlicher Vermittler der österreichischen Baukultur, langjähriger Redakteur bei der Zeitschrift Domus, Ausstellungsmacher, Autor, Juror, Publizist oder engagierter Kritiker umstrittener Entscheidungen der Wiener Kulturpolitik. Steiner verkörperte das, was man im besten Sinne des Wortes einen Suchenden nennt: immer wachsam und neugierig, forschend und voller Energie, jemand, der schnell denken und handeln konnte und genau deshalb die seltene Gabe besaß, der Welt stets auf Augenhöhe zu begegnen. Er war in der Diskussion oftmals herausfordernd und streitbar, aber seine Stimme hatte aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung international Gewicht.

Dietmar Steiner, 1951 in Wels geboren, studierte Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien, zuerst bei Ernst A. Plischke, später dann bei Gustav Peichl. Er arbeitete an Friedrich Achleitners berühmten Archivprojekt „Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert“ mit, unterrichtete bis Ende der 1980er-Jahre an der Hochschule für angewandte Kunst Wien und war anschließend für einige Jahre Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Mit der Gründung des Architekturzentrum Wiens legte Steiner 1993 den Grundstein für dessen bis heute anhaltenden internationalen Erfolg. Aus der kleinen, noch in provisorischen Räumen untergebrachten Architekturplattform, entwickelte er in knapp 25 Jahren eines der weltweit interessantesten Architekturmuseen – eine Mammutaufgabe, die ihm nicht nur den Respekt der internationalen Kulturszene einbrachte, sondern von 2006 bis 2014 auch das Amt des Präsidenten der International Confederation of Architectural Museums (ICAM), der weltweiten Dachorganisation der Architekturmuseen.
Während seiner Zeit am AzW entstanden eine ganze Reihe bahnbrechender und öffentlichkeitswirksamer Ausstellungsprojekte, die oft zu ganz neuen Sichtweisen auf die Architektur führten. Zu nennen ist die weltweit erste Ausstellung zum „Rural Studio“ von Samuel Mockbee und dessen „design-build“-Bewegung; das epochemachende Projekt „The Austrian Phenomenon“ über die österreichische Avantgarde der 1960er- und 1970er-Jahre; oder die international einflussreiche Ausstellung „Lessons from Bernard Rudofsky“ in Kooperation mit dem Getty Research Institute in Los Angeles und dem Canadian Centre for Architecture in Montreal.

Als sich Steiner 2016 schließlich zurückzog und die Leitung des AzW nach über zwei Jahrzehnten einer neuen Generation mit Angelika Fitz als Direktorin überließ, gab es ihm zu Ehren noch einmal ein großes Happening. Unter dem programmatischen Motto „Am Ende: Architektur“ und verbunden mit dem Anspruch, nicht weniger als die letzten 50 Jahre Architekturgeschichte kritisch Revue passieren zu lassen, gab es sowohl eine Ausstellung als auch einen mehrtätigen Architekturkongress, dessen Beiträge sich schließlich in der ARCH+ Jubiläumsausgabe „Projekt und Utopie“ zu einer polyphonen Architekturgenealogie zusammenfügten.
Es war in der Tat ein Event der Superlative und es kam alles nach Wien, was Rang und Namen hatte. Steiner selbst wirkte dabei ungewohnt melancholisch und nachdenklich. Wie auch sonst, ist man vielleicht geneigt zu sagen, immerhin ging hier doch eine ganze Epoche zu Ende – seine Epoche. In den letzten Jahren, so der Eindruck, hatte er ein wenig den Glauben an die politische Kraft der Architektur verloren. Er sah die Figur des Architekten und der Architektin zunehmend in Bedrängnis geraten. Zu dominant erschien ihm das Ausbeutungsdenken der globalen Bauindustrie, zu groß der Hunger der mächtigen Immobilienbranche, zu ideenlos dagegen die Arbeiten der etablierten Büros und zu inhaltlich abgedroschen der internationale Zirkus der Biennalen.

„Welchen Ratschlag kann ich ‚am Ende‘ der jungen Generation geben?“ fragt er sich in der ARCH+ Jubiläumsausgabe, fast so als suche auch er nach einer neuen Rolle für sich selbst, nach all den vielen Debatten und Diskursen der vergangenen 50 Jahre. „Wir haben in den letzten Jahrzehnten in Europa, in Nord- und Südamerika einfach zu viele junge Architekten und Architektinnen ausgebildet, die im klassischen Arbeitsmarkt der Architekturbüros keine Aufnahme mehr finden können. Sie müssen nun hinaus, auf die Baustelle der konkreten Entscheidungen. Sie müssen mit den von Planung und Stadtentwicklung Betroffenen mitarbeiten, auch Hand anlegen, um Alternativen zur bestehenden bürokratischen Stadtentwicklung zu formulieren.“ Das klingt nach einer großen und keinesfalls einfachen Herausforderung für die neue Generation, geht es doch immer auch um die Suche nach einem kritischen Standpunkt im Umgang mit den Widersprüchen der eigenen Disziplin.

Steiner hat seine Frage gewissermaßen selbst beantwortet. In einem bereits 1980 leidenschaftlich formulierten Leserbrief an die ARCH+, gratuliert er der damaligen Redaktion zum Gelingen des 50. Heftes, in dem es, so auch der Titel der Ausgabe, um die „Wiederentdeckung des Raumes: Stadträume – Sozialräume“ ging. Man sollte die „zulange vernachlässigte Wirklichkeit des gebauten Raumes genauer ins Monokel […] nehmen“, so Steiner. Es war die gesellschaftliche Dimension, die ihn stets interessierte, der sogenannte Sozialraum. Dieses Interesse am Gesellschaftlichen forderte er bis zuletzt auch immer wieder von den Architekten und Architektinnen selbst ein. „In diesem Sinne, mehr Mut zum ‚Fleisch‘, zum Alltag, zum Raum, zur Architektur, zur Wirklichkeit verdammt noch mal“, wünschte er sich in seiner für ihn so unnachahmlichen Art und formulierte damit nicht zuletzt auch jene Tugend, der er selbst Zeit seines Lebens treu bleiben sollte.
Jetzt hat Dietmar Steiner seine endgültige Ruhe gefunden und keiner wird ihn mehr stören können. Er verstarb am 15. Mai 2020. Ein bitterer Verlust für die Architektur. Er wird uns schmerzlich fehlen.

 

Georg Vrachliotis ist Professor für Architekturtheorie am Kalrsruher Institut für Technologie sowie Beiratsmitglied der ARCH+, mit Beatriz Colomina, Arno Brandlhuber, Philipp Oswalt, Stephan Trüby, Mark Wigley und Karin Wilhelm.