0
ARCH+ news

Lisbon Diaries: Sonntag, 14.11.2010

Das Flugzeug gleitet einmal quer über die Stadt, um über dem Atlantik die Kurve zum Landeanflug zu ziehen und noch tiefer über die Stadt zu donnern.

Lissabon aus der Luft: Was für eine zersiedelte Agglomeration, hinter jedem umliegenden Hügel die nächste vielgeschossige Hausansammlung, alles mit dicht befahrenen Schnellstraßen vernetzt. Früher – vor der EXPO – war der Flughafen noch von Slums umgeben. Die Bewohner wurden dann in irritierend leblos wirkende Wohnsilos umgesiedelt. Zu Fuß nur über Sand- und Wiesenpisten entlang von Schnellstraße erreichbar und getrennt durch kurvende Auf- und Abfahrten. Boris Sieverts, der Peripherie-Flaneur, erwanderte einige im Zusammenhang mit dem Projekt "Em Trânsito".

Die Hügelkopfbewaldungen sind meist als Naturschutzgebiet vor weiterem Landraub geschützt. Ob sie auch als Naherholungsgebiete dienen, weiß ich nicht.

Ja, Hügel sind das Thema in Lissabon. Auf der Fahrt mit dem Taxi habe ich doch tatsächlich einen der wenigen Radfahrer gesichtet, natürlich unten am Tejo, an der parallel zur Fluß-Ebene verlaufenden Schnellstraße.

Vor dem Haus erstmal vierzig Minuten auf den angekündigten Herrn Mario warten. Die Wohnung ist wunderbar, vis-à-vis eine Bauruine neben einer kleinen Kirche. Herr Mario notiert die WLAN-Daten und verzieht dann das Gesicht: Der Strom funktioniert nicht. Schnell zeigt er mir, dass es aber warmes Wasser und den Herd mit Gas gibt. Er sagt, er kümmert sich darum, ich habe meine Zweifel …

Währenddessen gehe ich Ess- und Trinkbares kaufen, unweit des Bahnhofes gibt es einen sogar sonntags von 8 bis 21 Uhr geöffneten Supermarkt. Kaum zurück klingelt es an der Tür: der Elektriker! Mit woodoo-artigem hier und da Nachschauen, auf dieses und jenes Drücken und telefonischer Rücksprache kriegt er alles zum Laufen, auch das WLAN!

Das Radio hat vorprogammierte Sender: Euro-Pop, Euro-Dance-Trance, Euro-Metall. Ich lass dann mal den Metall, der sich zu ganz akzeptablem Indie entwickelt, wenn auch ich kein einziges Lied kenne.

Diedrich Diederichsen schrieb einmal über New York, man müsste dringend viel Fernsehen, um zu begreifen, wo man da gelandet ist. Das werde ich die nächsten Tage geflissentlich auf Lissabon anwenden.

Aber zurück zu den Hügeln: Nach offizieller Zählweise sind es sieben – immer sind es sieben, war ja auch nicht anders zu erwarten. Am besten bezwingt man sie mit den kleinen archaischen, sich hinauf quälenden Trams. Auf dem höchsten liegt das Kastell St. Georg. Beim flanieren wird schnell klar, dass es erheblich mehr als sieben sind. Quellen verkünden, dass Lissabon auf dem Burghügel gegründet wurde und ein Chronist im 16. Jahrhundert noch fünf gezählt hatte. Die Sieben kamen dann 1620 in Nicolau de Oliveiras "Livree das Grandezas de Lisboa" zusammen. War bestimmt ein Rom-Neid. Seitdem die Stadt sich Mitte des 19. Jahrhunderts immer weiter ausdehnt, verstärkt durch den Sprawl der Nachkriegszeit, sind es unzählige.

Städtebaulich ist Lissabon heute durch eine Umverteilung der Bewohner geprägt, die Einwohnerzahl auf dem Stadtgebiet ist dagegen relativ konstant geblieben. Was an der ohnehin schon hohen Dichte liegen mag. Die Umverteilung ist natürlich wirtschaftlichen Ursprungs. Eine Arbeiterschaft existiert durch die zunehmende Deindustrialisierung fast nicht mehr, die Menschen wechseln in Arbeitslosigkeit oder Dienstleistungen. Durch den einsetzenden Prozess der Gentrifizierung werden sie schließlich gezwungen, aus ihren traditionellen Wohnvierteln fortzuziehen.

Im Bairro Alto, einem ehemaligen Arbeiterbezirk mit angeschlagener Bausubstanz, ist diese weit verbreitete Entwicklung deutlich zu sehen. Künstler und Nachtschwärmer ziehen nach, die Bohème fühlt sich gelockt, Gebäude werden entkernt und innen neu und schick aufgewertet und von wohlhabenderen Bonvivants bezogen.

Auch ich trage meinen Teil dazu bei. Die Wohnung von Herrn Mario liegt genau um die Ecke, verkehrsgünstig für Nachtschwärmer wie mich. Jetzt aber erst mal schnell durch den benachbarten Jardim Botanico sonntäglich spazieren. CR