Nachruf für Werner Sewing
anlässlich der Trauerveranstaltung am 20. August 2011 in der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam
von Werner Durth
Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit
Wir wollen uns so an Werner Sewing erinnern, wie er uns allen in Erinnerung bleiben möge, so, wie er uns in diesem Bild erscheint: mit seinen klugen Augen, mit wachem Blick, darüber die hohen Bögen der Brauen, die mit der unglaublichen Beweglichkeit seiner Mimik zu tanzen begannen, wenn er erzählte. Und das tat er gern.
Wir erinnern seine Lust am geschliffenen Formulieren, sein herzliches Lächeln, das gern auch ironische Züge annahm, wenn seine Sprache an Schärfe gewann, eine Schärfe, die aber doch stets durch die tiefe, warme Stimme nie wirklich aggressiv sein konnte, auch wenn er sich fürchterlich erregte – und selbst dann noch lieber mit feinem Humor treffsicher seine Spitzen setzte als zu dröhnendem Angriff auszuholen.
Ja, so wollen wir ihn in unserer Erinnerung bewahren. Deshalb haben wir zum Abschied diesen Ort gewählt, das Haus der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam, weil hier auch sein politisches Engagement für ein anderes Planen und Bauen gewürdigt werden kann, das ganz andere Qualitäten entfalten sollte als die von wirtschaftlichen und politischen Interessen durchdrungene und missbrauchte Alltagspraxis im Bauen, deren Analyse und Veränderung Werner Sewing zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Es war ein langer und oft mühsamer Weg, bis er durch seine Professur in Karlsruhe endlich eine solide Basis für seine Arbeit bekam und sein Engagement endlich auch eine fachliche Anerkennung fand, über die er sich gerade wegen der Resonanz und Begeisterung der Studierenden von ganzem Herzen freuen konnte.
Zu meinen schönsten Erinnerungen gehört unsere überraschende Begegnung bei der Eröffnungsfeier in diesem Haus, im Frühlingsbeginn, am 17. März in diesem Jahr. Gerade zwei Jahre zuvor hatten wir am 7. März 2009 in kleinem Kreis die Hochzeit mit seiner Frau Constanze gefeiert: Diese beiden Jahre seien bisher die glücklichsten seines Lebens gewesen, schwärmte Werner, strahlend, voller Pläne, Projekte und neuer Ideen, voller Zuversicht im Blick auf einen neuen Lebensabschnitt nach dem geplanten Umzug nach Karlsruhe, wo er sich im Kreis der Kollegen und Studierenden aufgehoben fühlte wie nie zuvor in einer anderen Stadt.
Begeistert berichtete er noch im März von seiner Arbeit im Institut, von den Vortragsreihen, die er moderierte, von der Tagung zur Authentizität und von dem Internationalen Kongress zum Brutalismus in der Architektur, der im Mai 2012 in der Akademie der Künste in Berlin stattfinden würde, an deren Vorbereitung ich mich beteiligen sollte, was dann auch geschah. Noch während wir sprachen, wechselten wir die Orte: Ich war spät gekommen, er zeigte und erklärte mir das Haus, als wäre es seines – und tatsächlich ist diese Stiftung und ihr Haus ja auch Ergebnis der Arbeit des Fördervereins, in dem er seit vielen Jahren tätig war.
Auch deshalb treffen wir uns heute hier, weil wir Werner Sewing hier noch vor wenigen Monaten auf einem Höhepunkt seiner Lebensfreude begegnen konnten, die er sich auf seinem oft schwierigen Lebensweg mit allem Optimismus über die Jahrzehnte trotz Krankheit und vieler Enttäuschungen bewahrt hat. An diesem Tag im März fügte sich alles zu einem geschlossenen Bild, was zuvor bisweilen zersplittert und sogar gegenläufig erscheinen mochte: die verschiedenen Schwerpunkte seines Studiums, seine kühlen Analysen und seine Lust an Kritik, sein Mut, als Kreuz- und Querdenker und dazu noch als couragierter Einzelgänger Position zu beziehen – und doch Nähe zu suchen, um Freundschaften mit aller Herzenswärme zu pflegen zu können. Vor dem Ausbruch der katastrophalen Erkrankung vor wenigen Wochen schien sich ein Lebenstraum zu erfüllen, der schon in der eigenwilligen Wahl seines Studiums angelegt war.
1951 in Bielefeld geboren, begann er mit 18 Jahren das Studium der Soziologie in seiner Heimatstadt. Aber das war kein bequemer Zufall. Bielefeld war um 1969 eine bald weltweit bekannte Reformuniversität, eine Labor-Hochschule, nicht nur weil Hartmut von Hentig dort die Pädagogik revolutionierte.
Reinhart Koselleck befragte durch seine Studien die Sprache und somit radikal auch das Selbstverständnis von Historikern. Niklas Luhmann entwickelte aus der Systemtheorie amerikanischer Prägung den Ansatz einer Gesellschaftstheorie, die sich mit der Kritischen Theorie aus der Tradition der Frankfurter Schule zu messen suchte und 1971 in der Habermas-Luhmann Debatte unter der Frage Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? ihren Niederschlag fand. Dabei ging es noch grundsätzlich – heute kaum vorstellbar – um das Ganze der Gesellschaft im Wandel zum Bessern hin. Auch dieses Denken im Großen hat Werner Sewing geprägt, im Blick auf die langen Wellen im Wandel der Gesellschaftsformationen, die in der gegenwärtigen Soziologie kaum mehr Thema sind.
Mit wachem Blick auf aktuelle Entwicklungen
So hatte er, der anfangs politischer Journalist werden wollte und vor allem bei Luhmann studierte, schon zwei Lehrjahre mit hohem intellektuellem und ethischem Anspruch hinter sich, als er 1971 nach Berlin wechselte. Hier erweiterte er konsequent sein Studium durch Geschichte und Politikwissenschaft, und weil ihn die amerikanische Systemtheorie stärker interessierte als die deutsche, beendete er nach einem Studienaufenthalt in den USA 1975 seine Diplomarbeit über Talcott Parsons, bis 1973 Professor in Cambridge/Massachusetts. So war Werner mit dieser Arbeit schon damals auf der Höhe der Zeit aktueller Debatten, und so sollte es auch bleiben: Nicht hinterher zu hinken, sondern mit wachem Blick aktuelle Entwicklungen und Tendenzen wahrzunehmen, zu analysieren und darin die eigene Position zu bestimmen und zu behaupten, mag eine seiner Maximen gewesen sein.
1975 zunächst Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Freien Universität, wurde er 1978 Wissenschaftlicher Assistent, ebenfalls an einem Soziologieinstitut, aber jetzt: an der Technischen Universität Berlin. Seine Lehrgebiete waren Politische und Allgemeine Soziologie, es folgten Lehraufträge für Stadt- und Regionalsoziologie, daneben freie Mitarbeit in Architektur- und Stadtplanungsbüros. 1986 bis 1990 war er Leiter des Planungsbeirats beim Bezirksamt Schöneberg in Berlin, danach Gastdozent in Weimar, später dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter und schließlich Gastprofessor an der Bauhaus-Universität, anschließend auch an der Universität der Künste in Berlin.
Ein Schlüsseljahr war 1994. In diesem Jahr beendete er seine Dissertation, mit der er 1995 zum Dr. phil. promoviert wurde, und zugleich konnte er den zweiten Teil dieser Arbeit, der am Beispiel der Hauptstadt Berlin dem Thema „Leitbildformierung als Machtpolitik“ gewidmet war, als Grundlage eines Beitrags für die Zeitschrift ARCH+ verwenden. In dem legendären Heft mit dem Titel Von Berlin nach Neuteutonia, das im Juni 1994 erschien, analysierte er in akribischer Schärfe die Fiktion einer speziell Berlinischen Architektur im Geflecht von Interessen und personellen Beziehungen, die er – unerschrocken provozierend: namentlich – an den aktuell handelnden Akteuren festmachte, um damit zugleich einen Generationenwechsel in der Berliner „Machtpolitik“ zu bezeichnen. Solche Zuspitzung brauchte Mut und Stehvermögen, sie verstieß gegen Tabus und bewirkte Reaktionen: Polemik, Abwehr und Ausgrenzung.
Couragierter Kritiker
Doch Werner Sewing wusste sehr wohl, was er tat, als er die mächtigen Männer Berlins auf der Bühne einer Zeitschrift öffentlich in anderen Rollen auftreten ließ, als sie bisher bekannt waren. Und er wusste: Auch in der akademischen Welt der Soziologie macht man sich keine Freunde, wenn man das Feld distanzierter Objektivierung verlässt und mit unverhaltener Emotionalität die Dinge beim Namen nennt, um sie zu verändern; wenn man sich einmischt, und nicht nur kommentiert.
Schlagartig war Werner Sewing, so meine Erinnerung, durch die ARCH+ und die folgenden Diskussionen zu einer öffentlichen Person geworden. Er wurde befragt und gab klare Antworten. Ich habe bewundert, wie unerschrocken er in öffentlichen Debatten auf Anfeindungen reagierte, in der Sache entschieden, im Ton zumeist freundlich. Wie gesagt, so richtig aggressiv konnte seine warme Stimme nicht sein. Aber er hatte eine Mission, ganz in der philosophischen Tradition der Aufklärung. Gleich auf der ersten Seite seiner Doktorarbeit stellt er die Frage nach den bedrohlichen Folgen der „Ästhetisierung des Alltagslebens“, die die Menschen betört und ihrer Umwelt entfremdet, wenn sie, vom Schein überhistorischer Behaglichkeit verblendet, die Interessen und Verhältnisse nicht mehr erkennen können, deren Opfer sie werden.
Architektur als Opium fürs Volk? Hier saß der Stachel: Die allseits gepriesene Schöne neue Welt in historischer Kostümierung war ihm als Historiker und Soziologe ein Alptraum, aus dem nur Aufklärung befreien konnte, in Gegenbewegung zur durchgreifenden „Ästhetisierung des Alltagslebens“. Rund 20 Jahre zuvor hatte ich mit ähnlicher Fragestellung meine Dissertation unter dem Titel Die Inszenierung der Alltagswelt geschrieben und danach die Folgen des Generationenwechsels im Übergang aus der Weimarer Republik in die Zeit des Nationalsozialismus untersucht.
Als wir uns nach der Wende kennenlernten, hatten wir viele Themen, die wir nächtelang heiß diskutierten, bis hin zu verwegenen Verschwörungstheorien über die Machtformationen in Berlin und anderenorts, die wir dann doch auch wieder gelassen relativieren konnten. Dennoch blieb Werner in seinen Analysen stets dicht an der Wirklichkeit, dabei – als Theoretiker – immer vom Impuls zur praktischen Veränderung der Verhältnisse beseelt, wobei er zunehmend auch den Blick ins Ausland richtete, um Bewegungen wie den New Urbanism oder die jeweils neuesten Spielarten des Brandings und die internationale Bilderproduktion durch Architektur ins Visier zu nehmen. In vielen Fachzeitschriften des In- und Auslands erschienen seine Beiträge. Inzwischen war er als Lehrer und Gastkritiker international gefragt, so als Visiting Professor in Berkeley und an der University of Kentucky, an der Architectural Association in London und als Fellow an der Dutch Design Foundation in Amsterdam, 2004 als Alcatel Fellow an der Universität Stuttgart.
Seit 2003 war er Mitglied im Fachbeirat der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land und Vorstandsmitglied im Präsidium der Bundesstiftung Baukultur. Im selben Jahr publizierte er in der Reihe Bauwelt-Fundamente eine Aufsatzsammlung unter dem Titel Bildregie – Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur. Dieser Band war Grundlage für die Entscheidung der Jury, die ihm 2006 den renommierten Preis für Architekturtheorie der Schelling Architekturstiftung in Karlsruhe verlieh. Im vorigen Jahr wurde Werner Sewing in das Kuratorium der Stiftung gewählt, in der Gewissheit, dass sein Rat, seine Umsicht und seine Kenntnis internationaler Tendenzen ein wertvolles Geschenk sein würden.
Lange und oft schwere 12 Jahre nach dem spektakulären Auftritt in der Arch+ 1994 war das Jahr 2006 ein anderes Schlüsseljahr in seiner Biographie. Die weiter wachsende öffentliche Resonanz und sein wissenschaftliches Renommee ermutigten ihn, sich auf die Professur für Architekturtheorie an der Universität Karlsruhe zu bewerben, auf die er 2008 berufen wurde. Über seine Forschung und Lehre dort werden wir gleich Genaueres hören. Ich möchte nur vorab die Vortragsreihe erwähnen, in der er mit internationalen Gästen Vermittlungsstrategien der Architektur, Szenographische Landschaften oder Fragen der Warenästhetik erörterte.
Ein besonderes Anliegen war ihm das Internationale Symposium zur Architekturtheorie, das im Januar diesen Jahres, kurz nach seinem 60. Geburtstag, unter dem programmatischen Titel Authentizität in Karlsruhe stattfand.
Es ging ihm um Wahrhaftigkeit der Menschen im Umgang miteinander
Der Untertitel auf dem Tagungsprogramm liest sich in meinen Augen nachträglich wie ein Vermächtnis, in dem sich Werner Sewings Mission erklärt. Er lautet: Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit in der Architektur. Mit „Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit“ könnte sein Leben überschrieben sein, denn es ging ihm ja nicht nur um Architektur, sondern vor allem um Wahrhaftigkeit der Menschen im Umgang miteinander – und erst als Folge solcher gelebten Wahrhaftigkeit dann auch um eine entsprechend unverlogen gestaltete Welt, um eine Welt, die keiner trügerischen Verkleidung bedarf, um ihre Schönheit entfalten zu können: im gelungenen Wechselspiel von menschlicher Phantasie im Eigensinn des Entwerfens und sorgsamer Aneignung der Natur im Bauen. In dieser Perspektive war auch der Internationale Kongress zum Brutalismus in der Architektur geplant, in dem auf besondere Weise seine Gedanken zur Geschichte und Theorie der Architektur öffentlich zur Geltung gebracht und zur Diskussion gestellt werden sollten.
Mit seiner Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit stand Werner Sewing nicht nur in der großen Tradition der Aufklärung, sondern auch in der Tradition großer Architekten, die durch ihr Werk die Welt zum Besseren hin zu verändern suchten und sich dafür verausgabt haben, als notorische Weltverbesserer oft eher verhöhnt als geachtet: Architekten, die er verehrte, wie Hans Scharoun, den er voll Sympathie einen „etablierten Außenseiter“ nannte, oder Bruno Taut, der – als Sozialist „im überpolitischen Sinne“, wie er selbst betonte – Die Erde in eine gute Wohnung für die vom Weltkrieg geschundene Menschheit verwandeln wollte, und der mit anderen Worten seine Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit beschrieb: „Wir müssen ständig den Weg suchen, bei dem die Wahrheit nicht leidet und das Gefühl nicht hungert“. Wir hören erstaunt: „...und das Gefühl nicht hungert!“
Bei allem Respekt vor Werner Sewings Lebensleistung als Wissenschaftler, Forscher und Hochschullehrer: Das Wunderbare an ihm war, dass er darauf gar nicht stolz sein wollte – keine Spur von Dünkel, von kleinkarierter Rivalität und opportunistischem Schielen auf die Konjunkturen wissenschaftlicher Diskurse. Beschämend genug, wenn in der aktuellen Hochschulpolitik heute ständig vom „Kampf um die klügsten Köpfe“ die Rede ist, als ginge es nicht um lebendige Menschen mit all ihren Fähigkeiten, Ängsten und Wünschen. Fraglos war Werner Sewing ein „kluger Kopf“, aber vor allem auch Bauch, wenn er intuitiv die Relevanz eines Themas erkannte und in Diskussionen die Atmosphäre gestalten konnte. Dabei war stets noch zu spüren, ob er sich wohlfühlte in einer Gesellschaft oder abgestoßen war von den Worten und Gesten des Gegenübers. Er war ein offener, ganz untaktischer, deswegen auch manchmal bewusst taktloser Mensch.
Er war ein ganzer Mensch, ganz Leib und Seele, Kopf und Bauch, mit allen Wünschen, Ängsten - und Leiden, von denen er jetzt erlöst ist.
Wir werden ihn nicht vergessen, er hat uns Maßstäbe gesetzt.