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ARCH+ news

Architektur im Aufbruch - Ausstellung

Planen und Bauen in den 1960er und 1970er Jahren. Das M:AI als mobiles Museum ist im Jahr 2011 zu Gast im Spanischen Bau in Köln.
 
 

Spanischer Bau, Rathausplatz, Köln
Ausstellungseröffnung: Dienstag, 11. Oktober 2011, 19 Uhr
Anmeldung erforderlich unter info@mai.nrw.de
Dauer: 12. Oktober bis 3. November 2011
Öffnungszeiten: mo, di, mi, fr 8-18 Uhr do 8-20 Uhr sa und so 14-18 Uhr

Mit der Ausstellung widmet sich das M:AI Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW der Architektur, die in der letzten Zeit besonders in der Diskussion steht: der Baukunst der 1960er und 1970er Jahre.

Auch in ARCH+ 203: Planung und Realität – Strategien im Umgang mit Großsiedlungen werden die Fragen der damalige und heutigen Wahrnehmung der Großssiedlungen der Nachkriegszeit diskutiert und beispielhafte energetische Sanierungen vorgestellt.

Die Gebäude, die in dieser Zeit entstanden, sind mittlerweile in die Jahre gekommen und sehen nicht selten marode aus. „Sanierung oder Abriss?“ lautet nach fast 40 Jahren oft die Frage beim Umgang mit dieser Bausubstanz. Vor der endgültigen Antwort lohnt sich ein genaues Hinschauen. Die Ausstellung versucht dazu den differenzierten Blick auf die Zeit: Denn die Architektur der 60er Jahre ist mehr als Beton, Verdichtung oder Großform. „Architektur im Aufbruch“ skizziert den historischen Kontext und beleuchtet Hintergründe für das damalige Architekturverständnis: Technikbegeisterung, Fortschrittsglauben, Lossagung von der Vergangenheit. Sie beschreibt die Vielfalt der baulichen Lösungen: Großformen wie die Ruhr Universität Bochum oder das Aachener Klinikum, neue Wohnformen wie in Köln Chorweiler oder kleinteilige Entwürfe wie beim Wohnhaus Mayer Kuckuck, funktionale Formen wie beim Imbau-Spannbeton-Gebäude in Leverkusen oder die elegante Umsetzung amerikanischer Einflüsse wie beim Dreischeibenhaus in Düsseldorf. In Kooperation mit der GAG Immobilien AG wird ein Kapitel zum Thema Wohnungsbau hinzu addiert.

Im Jahr 2009 war das M:AI mit dieser Ausstellung in zwei Städten zu Gast: in Duisburg und in Bochum. Beide Male in Gebäuden, die exemplarisch für die Architektur der 60er und die aktuellen Probleme stehen: In Duisburg war es die skulpturale, in die Jahre gekommene Liebfrauenkirche. In Bochum wurde die Ausstellung im Foyer des Audimax der Ruhr-Universität gezeigt - zu einem Zeitpunkt - als ein Wettbewerb zur Sanierung und Neuorganisation der Hauptachse entschieden wurde.

Führungen
16. und 23. Oktober 2011, 15 Uhr 20. und 27. Oktober 2011, 19 Uhr
Anmeldung erforderlich unter info@mai.nrw.de

Busexkursionen
Die GAG Immobilien bietet Exkursionen zu ausgewählten Beispielen der 1960er / 70er-Architektektur in Köln an. Informationen unter www.gag-koeln.de

ARCHITEKTUR DER 1960ER/1970ER JAHRE - EIN UNGELIEBTES ERBE
Das architektonische Erbe der drei Jahrzehnte nach dem 2.Weltkrieg, geprägt vom Wiederaufbau und der Teilung nicht nur Deutschlands, sondern der Welt, von Kaltem Krieg, von weltweiter Demokratisierung, ebenso wie vom Traum eines  „humanistischen Sozialismus“, vom Wirtschaftswunder und sozialer Marktwirtschaft sowie dem Aufbruch in die Freiheit nicht nur einzelner Staaten und Länder, sondern in die persönliche Freiheit jedes Einzelnen, ist heute in Gefahr aus dem Gedächtnis unserer gebauten Umwelt getilgt zu werden. Das betrifft vor allem für die Bauwerke aus den späten 1950er Jahren bis in die Mitte der 1970er Jahre, die heute vielfach Stadtbild prägend sind.

STRATEGIEN DER VERDICHTUNG
Die Eleganz und Bescheidenheit der unmittelbaren Nachkriegsmoderne eines Egon Eiermann oder Sep Ruf wird mittlerweile von der Enkelgeneration anerkannt. Sehr viel schwerer fällt jedoch das Verständnis für Großbauten wie das Aachener Klinikum (1968-1985) oder gar für Siedlungsformen  wie das Märkische Viertel in Berlin (1963 - 1974), die Metastadt Wulfen (1972-1976) oder Köln Chorweiler (1969-1974). Geprägt wurden diese Anlagen von den neuen Leitbildern der Zeit: Dichte, Urbanität und Nutzungsmischung unter dem Motto „Gesellschaft durch Verdichtung“ (1963). Zugrunde lagen die Erfahrungen der unmittelbaren Aufbaujahre, die gezeigt hatten, das endlose Streusiedlungen und ausufernde Stadtränder, nicht nur große Flächen verbrauchten, sondern mehrfache soziale Einrichtungen benötigten und weit verzweigte Verkehrswege.So wurden enorme Kosten verursacht, ganz zu schweigen von der Vereinsamung einzelner Gesellschaftsgruppen. 

TECHNIKEUPHORIE
Beklagt wird heute auch die Verkehrsplanung der Zeit, die nicht selten mit dem Verlust historischer Bausubstanz einherging. Vor allem in den Großstädten schlug man für den prognostizieren Individualverkehr große – oftmals bis heute schmerzende – Schneisen. Ebenso sah man eine Chance, die als sozial defizitär gebrandmarkte Stadt des 19. Jahrhunderts grundlegend  um- oder gar neuzugestalten. Beflügelt wurden diese radikalen Eingriffe von einer ungeheuren Begeisterung nicht nur für das Auto, sondern die Technik überhaupt, vorwärts gedrängt von einem ungebremsten Fortschrittglauben. Die Raumfahrt war sichtbarer Ausdruck und Maßstab dieser Technik- und Mobilitätseuphorie. Von ihr ließen sich die Architekten nicht nur inspirieren, sondern sie lieferte auch neue Konstruktionen und Materialien. Membranen für die Zeltdächer von Frei Otto und Tragwerkkonstruktionen, die seriell, schnell und preiswert große Flächen überspannen konnten.

ARCHITEKTUR DER KÖRPERLICHKEIT
Gewollt war auch eine Ästhetik der größeren Sinnlichkeit: großplastische Baukörper mit grobkörnigen Oberflächen, die die Schalungsspuren gleichsam als Dekor zur Schau trugen. Gottfried Böhms Kirchen zeugen von dem Bemühen um Bildhaftigkeit und Körperlichkeit. Das vom Béton brut geprägte Spätwerk Le Corbusiers stand hier Pate, begleitet von einer zunehmenden Kritik an Rationalismus und Funktionalismus der „Bauhaus-Moderne“. Daneben aber blieb auch  weiterhin, eine am Internationalen Stil geschulte architektonische Haltung bestehen. Vielstimmigkeit ist nicht erst das Ergebnis des postmodernen Pluralismus. Vielmehr prägten die 1960er und 1970er Jahre vielfach konkurrierende Lösungen: Dichte und Auflockerung, Form und Struktur, Leichtigkeit und Massivität, Transparenz und Plastizität, Individualität und Konformität.

Die drei Nachkriegsjahrzehnte waren gekennzeichnet vom Aufbruch, von Vielteiligkeit und Vielstimmigkeit: „die geglückten Hervorbringungen der Epoche konnten als Wege ins Offene erscheinen“ (Wolfgang Pehnt). Deshalb verdienen die gebauten Zeugnisse dieser Jahrzehnte heute eine gerechtere Beurteilung, aber keine Glorifizierung, denn unbestritten, finden sich unter ihnen vielfältige Sanierungsfälle, an denen unzureichend erprobte Materialien, ebenso wie jahrzehntelange Vernachlässigung und soziale Fehlkalkulation ihren Anteil haben, hinterlassen.