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ARCH+ 204 – ONLINE ZEITUNG: Structuralism Reloaded

Über das Denken im Strukturalismus und den Strukturalismus im Denken – Eine produktive Konfrontation

Die vollständige Ausgabe ARCH+ 204: Krise der Repräsentation finden Sie in unserem Archiv.

 

Tomás Valena, Tom Avermaete, Georg Vrachliotis (Hg.): Structuralism Reloaded. Rule-Based Design in Architecture and Urbanism, Edition Axel Menges, 2011, 320 Seiten, Englisch, € 86.00, ISBN 978-3-936681-47-5
 

Ist es nicht verwunderlich, dass gegenwärtig eine junge Architektengeneration heranwächst, die voller Euphorie den technischen Reizen des digitalen Entwerfens erliegt, ohne dabei jemals zu hinterfragen auf welchem theoretischen Fundament ihre regelbasierten Ansätze fußen? Während sie nicht einmal davor zurückschreckt ganze Städte zu parametrisieren, um ihnen auf Knopfdruck ein neues Gesicht zu verleihen, stellt sich zunehmend die Frage, welche Denkweisen ihr Handeln treiben und viel entscheidender: an welche architekturgeschichtlichen Ursprünge ihre Entwurfsmethoden anschließen.

Die englische Publikation „Structuralism Reloaded“ wagt eine erste Antwort, indem sie eine geistige Verwandtschaft mit dem Strukturalismus der 60er und 70er Jahre behauptet. Geschickt konfrontieren die Herausgeber die junge Architektengeneration mit den Positionen von Strukturalisten, Architekturtheoretikern und Philosophen. So verleiht der Sammelband dem aktuellen Diskurs zum regelbasierten digitalen Entwerfen in Architektur und Städtebau einen frischen Akzent. Ganz im Sinne des strukturalistischen Vordenkers Roland Barthes „Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen“, wird der Strukturalismus-Begriff zunächst in seine Einzelteile demontiert, um dadurch seinem geistigen Kern auf die Schliche zu kommen. Diese Konfrontation wagt es nicht nur, die aktuellen Tendenzen des digitalen Entwerfens erstmals grob in einem kulturhistorischen Kontext einzubetten, sie verleiht auch dem Strukturalismus eine neue Berechtigung: als fundamentale architektonische Denkweise, welche die Architekturgeschichte seit ihren Anfängen begleitet und heute eine Renaissance erfährt. Angestoßen wurde der Band, der die Beiträge des gleichnamigen Kolloquiums an der Hochschule München versammelt, übrigens durch die provokante These vom „Neo-Strukturalismus digitaler Prägung“, die ARCH+ 189 „Entwurfsmuster“ zum ersten Mal formulierte.

Im einleitenden Beitrag eröffnet Tomáš Valena das weite Feld des Diskurses und führt den Leser mit einer Reihe von anregenden Fragen in die Welt strukturalistischer Denkformen ein.

Das erste Kapitel beginnt mit dem 1971 publizierten Aufsatz „The Structuralist Activity“. Hier kritisiert Roland Barthes vehement den Gebrauch des Begriffs Strukturalismus für eine zeitlich begrenzte Bewegung. Mit seiner Forderung, den Strukturalismus als zeitlose und aktive geistige Tätigkeit zu verstehen, erscheint Barthes gleichsam als eine Brücke, mit der sich die Positionen des historischen Strukturalismus mit denen des regelbasierten Entwerfens verbinden lassen. Zugleich kündigt dieser Text bereits an, welch hohe geistige Flexibilität das Buch vom Leser verlangt. Wer eine allzu direkte Verknüpfung zwischen dem Damals und dem Jetzt erhofft, wird auch im Fortlauf des Buches irritiert sein, denn die unmittelbare Konfrontation beider Positionen bringt keine eindeutigen und unstrittigen Parallelen hervor, sondern fordert vom Leser vielmehr eine geistige Unvoreingenommenheit ein.

Das zweite Kapitel „Heroic Structuralism“ wendet sich den Protagonisten und Ikonen der 60er und 70er Jahre zu. Sorgfältig rekonstruiert es die Verbindungen zwischen den Protagonisten und deckt rückblickend immer wieder überraschende Gemeinsamkeiten und Widersprüche zwischen ihren Positionen auf. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Bebilderung der Essays. Sie verleiht dem Buch eine zweite Ebene, die – neben der textlichen Abhandlung – zu einem visuellen Spaziergang durch die Projekte einlädt. Und obschon sich beide Erzählweisen gegenseitig bedingen, ist jede Erzählweise für sich genommen eine Reise durch das Buch wert.

Mit Exkursen zum slowenischen, italienischen und skandinavischen Strukturalismus enthüllt das dritte Kapitel mit dem Titel „Structuralist Trajectories“ immanent neue Einflusssphären. Spätestens hier wird die produktive Vielfalt und der Interpretationsspielraum des Strukturalismus-Begriffs besonders deutlich. Denn trotz des permanenten Austausches seiner Protagonisten durch Publikationen, Wettbewerbe und Zusammenkünfte brachte der Begriff gerade in den zahlreichen lokalen Kontexten auffallend unterschiedliche Ausprägungen zum Vorschein.

In „Neo-Structuralism and Digital Culture“ nähern sich die Autoren dem Kern der Hypothese, das Digitale Entwerfen in einer historischen und theoretischen Kontinuität mit dem Strukturalismus zu wähnen. Allen voran der einleitende Essay von Georg Vrachliotis „On Conceptual Histories of Architecture and Digital Culture“ und der erhellende Beitrag von Toni Kotnik „Algorithmic Design. Structuralism Reloaded?“ spannen den Bogen zurück zum eingangs erwähnten Begriff des „Neo-Strukturalismus“ und hinterfragen kritisch, was dieser im historischen Kontext zu leisten vermag. Und obwohl das Kapitel mehr Fragen aufwirft als beantwortet, steht fest, dass sich eine Reihe aktueller Entwurfsmethoden, die sich der Geometrie, Komplexität und Parametrik zuwenden, durchaus als „strukturalistische Aktivitäten“ im Sinne Barthes lesen lassen.

Die Besonderheit des Buches liegt aber zweifellos im fünften Kapitel begründet. Denn nach der gewaltigen Flut theoretischer Überlegungen, wagt das Buch abschließend eine Gegenüberstellungen mit jüngsten Praxisbeispielen parametrischer und regelbasierter Architektur- und Stadtentwürfe von bedeutenden Protagonisten digitaler Entwurfsmethoden, darunter Winy Maas (MVRDV), Fabian Scheurer, Arnold Walz (designtoproduction), David Lee und Anthony Stahl (Metous Studio). Ganz im Sinne des Bandes sollen auch hier weniger die Projekte als „Objekte“ im Vordergrund stehen als vielmehr ihre zugrunde liegenden Konzepte, Einstellungen und Denkmuster sowie die verwendeten Entwurfswerkzeuge und Computerprogramme.

Bereits der erste Beitrag des Kapitels „Pixelpower“ von Winy Maas offenbart dabei die Schwierigkeit dieses Versuchs, da er sich einem inhaltlichen Diskurs zwischen Strukturalismus und Digitalem Entwerfen vollkommen entzieht. Hier wird auch deutlich, dass eine lineare Annäherung beider Positionen nicht ohne weiteres möglich ist. So wünscht man sich doch gerade an dieser Stelle, dass der Band sich hin und wieder vom strukturalistischen Dogma löste, um einem noch breiteren Spektrum möglicher Inspirationsquellen und geistiger Einflüsse der heutigen Architektengeneration auf einer Metaebene zu begegnen. Und so bleibt festzuhalten, dass dieses Buch zwar weniger eine umfassende architekturtheoretische Einbettung des Digitalen Entwerfens liefert, wohl aber als eine erste Annäherung möglicher Wurzeln der regelbasierten Ansätze verstanden werden kann. Eine produktive Annäherung, die nicht etwa eine zwanghafte Nivellierung vieler kontroverser Positionen und Entwurfsansätze zum Ziel hat, sondern deren Raffinesse in der Profilierung einer vielschichtigen Perspektive liegt, die auch eklatante Widersprüche zu Tage fördert.