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ARCH+ 204 – ONLINE ZEITUNG: Haus und Landschaft in Asien

Dieter Hoffmann-Axthelm über Andreas Brandts erstaunliche Publikation "Haus und Landschaft in Asien", die das Ziel verfolgt, "die Aufnahmen von Häusern und Ansiedlungen in den Landschaften so darzustellen, daß die Zeichnungen als Schrift gelesen und verstanden werden können."

Die vollständige Ausgabe ARCH+ 204: Krise der Repräsentation finden Sie in unserem Archiv.

 

Andreas Brandt: Haus und Landschaft in Asien. Dörfer, Häuser und Tempel in Nepal, Orissa, Vietnam und der Mongolei, 2000-2009, Alpheus Verlag, Berlin 2011, 200 Seiten, 128 €


Ein erstaunliches Werk, das als erstes. Da geht ein europäischer Architekt, nachdem er seinen Berufsweg abgeschlossen hat, Jahr um Jahr nach Asien, um die komplizierten vorindustriellen Bauten zu studieren, die Bewässerungstechniken, die Verknüpfungen von Dorf und Landschaft, Haus und Lebensweisen, und zeichnet auf, was er sieht. Nach Hause zurückgekehrt, verarbeitet er Skizzen, Fotos, Höhenangaben zur Topographie, botanische, zoologische, technische, soziale und baukulturelle Daten, alles das, was ein kleines, wechselndes Team bei wiederholten Besuchen der einzelnen Siedlungen zusammengetragen hat,  zu großformatigen Zeichnungen auf Transparentpapier. Und es findet sich ein Verleger, der diese Blätter, ergänzt um kurze Texte und eine Reihe Fotos, als aufwendig gestaltetes Buch herausbringt.

Entstanden ist so ein Bilderwerk, das es geduldig mit den Augen zu durchforschen gilt: „Mein Ziel war es, die Aufnahmen von Häusern und Ansiedlungen in den Landschaften so darzustellen, daß die Zeichnungen als Schrift gelesen und verstanden werden können.“ (S.8) Das ist wörtlich zu nehmen. Die ethnologische Forschung wird schon seit längerem auch von Architekten oder Bauzeichnern begleitet, die in Grundrissen, Schnitten, Detailzeichnungen die baulichen Strukturen „primitiver“ Siedlungen aufzeichnen. Die Blätter von Andreas Brandt bedeuten da einen qualitativen Sprung, was Vollständigkeit und Vielschichtigkeit der Darstellungstechnik angeht. Allein schon die großen Aufsichten: Auf den allerersten Blick könnte man meinen, das sei der Satellitenblick von Google Earth. Tatsächlich überschneiden sich unterschiedliche Ebenen der Darstellung. Landschaft und Gärten werden einerseits naturalistisch gezeichnet, Bäume werfen Schatten, die Steine haben ihre belichteten und abgedunkelten Seite, und gleichzeitig ist das Wissen um die strenge strukturelle Gliederung des genutzten Geländes – Felder, Terrassen, Gärten, Höfe, Wege, Plätze, Achsen und Sichtbeziehungen zu kultischen Orten – eingearbeitet. Ebenso wird die Siedlungsstruktur gezeigt, man sieht hierbei nicht nur Dächer, sondern den Zusammenhang von Haus und Parzellenstruktur, unterscheidet Hausteile und unterschiedliche Bedachungen. In einer detaillierteren Darstellung werden die Häuser als bloße Grundrisse eingezeichnet, und schließlich blickt man inmitten dieser Grundrisse in die Einrichtungen der Häuser; dann gibt es einen horizontalen Schnitt durch die Hausgruppe, der den Blick ins Innere der Häuser erlaubt, auf die darin arbeitenden Menschen, in die Stallungen, Vorratshaltungen in Untergeschossen und Dachböden. Ergänzt werden die Darstellungen durch die Aufnahme des Einzelhauses, ob Schnitt oder Ansicht, mitunter in Gegenüberstellung mit dem entsprechenden Foto. Der Kontrast von Fotos und Zeichnungen ist ausgesprochen lehrreich und reizvoll: Selbst die architektonisch gedachten Aufnahmen entfalten unweigerlich Stimmungswerte; die Zeichnungen sind im Gegensatz dazu viel kälter, sie sind analytisch angelegt und führen das Sehen schrittweise in die strukturelle Tiefe des jeweiligen Siedlungsmusters.

Kennt man einige von Brandts Bauten, dann ist der Weg zur Typusforschung durchaus logisch, hat er sich doch als Architekt im Spannungsfeld zwischen der Internationale der Moderne und den historischen Typologien des alten Europa bewegt. Er geht jetzt nur einen Schritt weiter und versucht auf den Spuren Bernard Rudofskis über das Zeichnen an die Primärfunktion des Entwerfens heranzukommen: dass es das Leben mit seinen über Generationen aufgebauten Erfahrungen und Fertigkeiten ist, welches den jeweiligen Typus formt und „Architektur ohne Architekten“ entstehen lässt – so der Titel von Rudofskis berühmtem Buch von 1987, einem Manifest gegen den Hochmut der Moderne.

Dies ist aktueller denn je, bewegt sich die Architekturentwicklung doch derzeit in eine immer grundsätzlichere Spaltung hinein: Auf der einen Seite die rechnergestützte Wiederholung und Überspitzung der historisch gewordenen Architekturmoderne des 20. Jahrhunderts, auf der anderen Seite der Versuch, eine Ernsthaftigkeit des Anschlusses an die historische Typusentwicklung zu finden, angesichts derer die Spiele der Postmoderne nur noch komisch wirken. Dabei geht es nicht zuletzt auch darum, wie man sich zur ökologischen Wende verhält – ob sie im Gebauten auf die Fähigkeiten der Nutzer zählt oder auf die vollständige Digitalisierung technischer Funktionen, denen sich die Nutzer einzupassen haben.

Damit gewinnt der Architekturstreit Anschluss an die Grundfrage des neuen Jahrhunderts, ob wir den bisher gegangenen Entwicklungspfad nicht eigentlich schleunigst verlassen müssten, um uns nicht selbst zu zerstören, die Atomdiskussion als Markstein auf diesem Wege. Die Illusion der Moderne war es ja, wir könnten heute alles besser. Wir wissen, dass historische Technologien technisch gesehen einfacher waren, aber auch, dass sie weniger einseitig waren, und dass sie ihre Zwecke mitunter viel umfassender, mit weniger Zerstörung im Umfeld, erfüllten.

Brandt verweist auf das Thai-Dorf Ban Kai in Vietnam. Als er das Dorf besuchte, gab es noch das alte Bewässerungssystem, kleine Kanäle, aus denen leichte Wasserräder lautlos Tag und Nacht gerade die Menge Wasser schöpften, welche die Felder brauchten. Dazu ist eine wöchentliche Wartung nötig, und alle drei Jahre ersetzt ein Handwerker die verbrauchten Schöpfräder. Inzwischen liefert die Regierung Dieselmotoren, das eingespielte Handwerk der Wartung und Ersetzung des alten Systems geht verloren, die Bauern verlieren den Zugriff auf ihr wichtigstes Produktionsinstrument und werden von den Zufällen des Ölnachschubs und der Techniker aus der Stadt abhängig. Selbstverständlich ist nichts davon auf europäische Verhältnisse übertragbar – unser Problem ist, die entfaltete Technik durch umweltfreundlichere Fortentwicklung zu begrenzen und wieder für die Einzelnen zugänglicher zu machen. Auch in Asien geht das meiste von dem, was Brandt aufgezeichnet hat, längst verloren, auch da ist die Entwicklung unumkehrbar. Haben wir also ein Buch der Trauer vor uns? Das auch, aber nicht nur. Zweifellos handelt sich um ein Buch, das dem Leser Zeit und Geduld abverlangt.

Man kann die unterschiedlichen Haus-, Siedlungs- und Arbeitsformen nicht betrachten, ohne auf zweierlei zu stoßen: erstens auf die eigenen Wünsche nach der Überschaubarkeit der eigenen Lebensverhältnisse, zweitens auf bestimmte anthropologische Konstanten des Bauens und Lebens, die dafür sorgen, dass wir jedes dieser fernen Modelle verstehen, den sorgsamen Umgang mit knapper Fläche, die enge Verknüpfung von Öffentlichem und Privaten, die Kunst der Anpassung an schwierige Umstände, alles Dinge, die wir vermutlich wieder erlernen müssen, um unter sich rasant ändernden Verhältnissen humane Lebensverhältnisse zu behalten.

Es wäre auch ein Mißverständnis, diese traditionellen Modelle für statisch zu halten. Sie sind seit Jahrtausenden dem kulturellen Austausch und den durch Handel und Wanderung beförderten Zustrom anderer Bilder, Materialien und Techniken ausgesetzt gewesen. Das Problem des industriellen Wandels ist dagegen, dass nicht nur die alten Pattern, sondern gleich die Siedlungen selber verschwinden, während die Menschen in die Metropolen abwandern. Wo hört der Wandel auf und fängt der Kahlschlag an, werden die Verluste zu groß? Das genau ist ja heute auch unsere Frage mitten in den Metropolen, die, nachdem sie ihr Umfeld zerstört haben, daran gehen, sich selber zu kannibalisieren.