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ARCH+ 204 – ONLINE ZEITUNG: Mach’s-noch-mal-Architektur

Vier Neuerscheinungen zum Phänomen der Rekonstruktion lassen viele Fragen offen

Von Stephan Trüby

Ein evolutionstheoretisch geprägter Blick auf die Architektur bringt mit sich, dass das forschende Augenmerk ebenso auf Reproduktionen, Kopien und Wiederholungen, also auf die „Zweiten“, „Dritten“, „Vierten Male“ etc. gerichtet werden muss. 

Die vollständige Ausgabe ARCH+ 204: Krise der Repräsentation finden Sie in unserem Archiv.

 

Michael Braum, Ursula Baus (Hrsg.): Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema, Basel: Birkhäuser, 2009, 112 S., 120 S/W-Abbildungen, Paperback, ISBN 978-3-0346-0067-5, Preis: 19,90 € 

Christian Welzbacher: Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder, Berlin: Parthas, 2010, 120 S., S/W-Abbildungen, Geb. Buch, ISBN: 978-3869640310, Preis: 16,90 €

Winfried Nerdinger (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, 2010, 512 S., 363 farbige Abbildungen, 396 S/W-Abbildungen, Geb. mit Schutzumschlag, ISBN: 978-3-7913-5092-9
, Preis: 69,00 €

Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel, Georg Mörsch (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Bauwelt-Fundamente, 146
, Basel: Birkhäuser, 2011, 225 S., keine Abbildungen, Paperback, ISBN 978-3-0346-0705-6

, Preis: 24,80 €
 

Architektur ist die Evolution von Architektur. Dieser nur scheinbar simple und konsensfähige Satz enthält eine subkutane Zumutung für die Theorie und Geschichtsschreibung der Architektur. Denn er impliziert, dass die Evolution von Architektur eben nicht nur – wie es das Gros der zumeist kunstwissenschaftlich geprägten Architekturtheoretiker und -historiografen gerne hätte – als eine grandiose Abfolge mehr oder weniger genialen „Ersten Male“ und mithin nicht nur als ein kontinuierlicher Innovationsprozess analysiert werden kann. Ein evolutionstheoretisch geprägter Blick auf die Architektur bringt mit sich, dass das forschende Augenmerk ebenso auf Reproduktionen, Kopien und Wiederholungen, also auf die „Zweiten“, „Dritten“, „Vierten Male“ etc. gerichtet werden muss. Wer sich einer solchen Perspektive auf das Bauen verschreibt, macht sich verdient: Er betreibt die Desillusionierung eines Architekturdiskurses, der sich nur allzu oft auf das institutionalisierte Lob der Ausnahme und manchmal gar nur auf Vorwort-Panegyrik im Handgepäck von starchitects beschränkt. Umso begrüßenswerter sind intellektuell anspruchsvolle Auseinandersetzungen mit dem „architektonischen Arm“ des Wiederholungsgeschäfts: dem ebenso umstrittenen wie kulturell erfolgreichen Phänomen der Rekonstruktion. Vier unterschiedlich gewichtige Neuerscheinungen sind in letzter Zeit erschienen, und die scharfe, um ein Haar justiziabel gewordene Auseinandersetzung um eines dieser Bücher beweist zumindest eines: Wen das Phänomen der „Mach’s-noch-mal-Architekturen“ nicht beschäftigt, der beschäftigt sich nicht mit der Gegenwart. 

Das von Michael Braum und Ursula Baus herausgegebene Buch Rekonstruktion in Deutschland (2009) versammelt einige ertragreiche Aufsätze zum Thema; hervorzuheben ist insbesondere jener von Ursula Baus selbst zur Geschichte des Rekonstruktionsbegriffes. Die Autorin kann mit ihrem Text „Facetten einer Begriffsgeschichte: Rekonstruktion“ überzeugend darlegen, „dass der Begriff reconstructio im klassischen wie im humanistischen Latein nicht bekannt ist und erst seit dem achtzehnten Jahrhundert mit der Philosophie der Aufklärung an Bedeutung gewinnt“.[1] In deutschen Konversationslexika, so Baus, taucht der Begriff erst im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert auf,[2] also am Ende eines Säkulums, das durch seine Restaurierungs- und Rekonstruktionsaktivitäten noch immer als Referenzepoche gegenwärtiger Debatten taugt. Der Beitrag der Stuttgarter Architekturjournalistin verdeutlicht, dass die Rekonstruktionsdebatte nicht ohne das Bewusstsein der beiden folgenreichsten Ereignisse der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert geführt werden kann: 1939ff. und 1989ff. Denn sowohl die ungeheuren Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs als auch die Psychogeographie des wiedervereinigten Deutschlands führten zu weithin spürbaren Unverdaulichkeiten überkommener denkmalpflegerischer Anti-Rekonstruktions-Statuten. Ursula Baus’ Aufsatz macht deutlich, dass man, um dem Phänomen „Rekonstruktion“ beizukommen, einen anti-essentialistischen und etymologisch relativierten Rekonstruktionsbegriff benötigt. In ihrem Text bleibt nur ein einziger Wermutstropfen festzuhalten: ihr vorauseilendes Urteil. Letzterer möchte man eine Entschleunigung, eine die gebauten Ergebnisse des projektierten Berliner Humboldtforums abwartende Haltung verordnen, wenn die Autorin schreibt: „Was [...] heute landläufig als ‚Rekonstruktion‘ gebaut wird, unternimmt nicht einmal den Versuch, einem Originalbauwerk nahe zu kommen. Insofern unterscheidet sich die Kombination aus Museum und Humboldt-Forum, die hinter den teilweise rekonstruierten Fassaden des Berliner Schlosses gebaut werden soll, nicht vom Kaufhaus hinter den rekonstruierten Fassaden des Braunschweiger Schlosses.“[3]

Rekonstruktion in Deutschland ist als erster Band einer Schriftenreihe der in Potsdam ansässigen Bundesstiftung Baukultur erschienen, und so nimmt es nicht Wunder, dass es gerade die Rekonstruktionsprojekte der Brandenburger Hauptstadt wie Landtagsneubau, Garnisonskirche und Palast Barberini sind, die im Buch wiederholt zur Sprache kommen. Doch eine intensive Auseinandersetzung mit der spezifischen Rekonstruktions-Situation in Potsdam bleibt leider aus – dies muss ausdrücklich als Manko des Buches erwähnt werden. Michael Braums Aufsatz „Vom Werden der Stadt. Zur Baugeschichte der Potsdamer Mitte“ lässt zwar die wichtigsten Wegmarken der Stadtbaugeschichte Revue passieren, doch wird darin die Chance auf eine intensive Diskussion der erwähnten Potsdamer Rekonstruktionsprojekte vergeben. Mit seinem eher unspezifisch gehaltenen Plädoyer „für eine zeitgemäße Haltung zum Weiterbauen unserer Städte“[4] geht es Braum offenkundig um eine Art In-Ehren-Halten der städtischen Textur, notfalls auch mithilfe von Rekonstruktionen: „Die große Herausforderung der städtebaulichen Entwicklung Potsdams liegt weniger im Grundsatzstreit über das Für und Wider von Rekonstruktionen [...]. Sie liegt auch weniger in dem vermeintlichen Gegensatz zwischen sozialem und luxuriösem Bauen, wie er in der Politik häufig artikuliert wird. Sie liegt vielmehr darin, von der beliebigen Aneinanderreihung einzelner Projekte abzurücken und wieder ein sinnfälliges Stadtgefüge zu schaffen, in dem Menschen eine Bereicherung ihres Alltags erkennen. Den nachfolgenden Generationen sollte sich das Weiterbauen der Mitte Potsdams in einem nachvollziehbaren Zusammenspiel des historischen, des vermeintlich historischen sowie des zeitgemäßen Bauens erschließen.“[5] Insgesamt sieht Braum, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, also einen Funken Hoffnung in der Option Rekonstruktion – und plädiert für diskursive Lockerung: „Wenn sich Rekonstruktionen nicht als modischer, zeitgeist- und marktkonformer Nachbau, sondern im Sinne einer sich stets ändernden Vergewisserung der Vergangenheit im Prozess des Bauens begreifen ließe, sollte sich die Debatte entspannen.“[6] Ihr weiterer Verlauf wird diese berechtigte Hoffnung Braums noch bitter enttäuschen.

Christian Welzbacher bezieht mit seinem Essay Durchs wilde Rekonstruktistan (2010) eine deutlich ablehnendere Haltung zu Rekonstruktionen als Braum – und macht nicht etwa stadtbildbesorgte Rekonstruktionsinitiativen, sondern ausgerechnet die traditionell rekonstruktionsskeptische Denkmalpflege selbst zur Zielscheibe. Ihr wirft er vor, den Boden für „Rekonstruktistan“ erst bereitet zu haben. Seine Kritik an einem „denkmalpflegerischen Furor, der verlorene Geschichte zur Obsession werden lässt und Realitäten späterer Zeiten ausblendet“, macht er am Sonderfall der 1975 bis 1991 umgebauten Schwetzinger Residenz deutlich: „Mit erheblichen Eingriffen wurde zunächst der berühmte Garten in die Zeit um 1775 zurückversetzt. Danach rückte man den Biedermeierinterieurs im Schloss zu Leibe. Sie verschwanden im Depot, als hätte es sie nie gegeben. An ihre Stelle traten nachgebaute neobarocke Raumfolgen.“[7] Welzbachers Volte gegen eine angeblich rekonstruktionsbefördernde Denkmalpflege ist gewagt – und nicht frei von Grausamkeit, denn konstituierte sich die Denkmalpflege nicht gerade in Abgrenzung zum Rekonstruktionsfuror des 19. Jahrhunderts? Und erlaubt die Charta von Venedig – nach wie vor ein weithin konsensfähiger Kodex der internationalen Denkmalpflege – nicht Rekonstruktionen lediglich im Bereich der Archäologie, und zwar bei der so genannten Anastylose, also beim Wiederaufrichten und Zusammenfügen herabgestürzter oder umgefallener Originalfragmente? Und spricht sich das Gros der Denkmalpflege in Praxis und Forschung nicht ausdrücklich und kontinuierlich gegen Rekonstruktionen aus? Welzbacher ficht das nicht an und schreibt: „Man kommt nicht umhin, die weit verbreitete Selbstherrlichkeit der (rekonstruierenden, S.T.) ‚Konservatoren‘ als Extremreaktion auf die kulturpolitische Entmachtung zu sehen, die die Institution Denkmalpflege in den vergangenen Jahrzehnten hinnehmen musste – wobei die Kaltstellung gerade der Vielzahl nicht nachvollziehbarer Entscheidungen geschuldet sein dürfte.“[8]

Am wenigsten überzeugt das sich bereits im Titel ankündigende Leitmotiv von Welzbachers Buch: die Parallelisierung von Karl Mays Durchs wilde Kurdistan mit der deutschen und internationalen Rekonstruktionslandschaft. Worauf der Autor hier anspielt, ist die Tatsache, dass May seine Erzählungen aus dem Kurdistan zwischen 1881 und 1882 veröffentlichte, aber erst in den Jahren 1899 und 1900, also fast eine Dekade später, den Orient bereiste. Auf dieser Exkursion erlitt der Schriftsteller, wie Mays zweite Frau Klara überliefert, zwei desaströse Nervenzusammenbrüche. Dies sei wohl, so vermuten Ekkehardt Bartsch und Hans Wollschläger, dem Einbruch der „grellen Realität“ in Mays Fiktionen geschuldet.[9] Darauf aufbauend insinuiert Welzbacher, dass auch in den Geschichts-Simulationen der Rekonstruktion die Nervenzusammenbrüche nicht weit seien. Doch wessen Zusammenbrüche? Die Rekonstruktionsbefürworter erfreuen sich jedenfalls bester Gesundheit. Meint Welzbacher, dass die seiner Ansicht nach in der Vergangenheit allzu oft mit dem Feuer der Rekonstruktion spielenden Denkmalpfleger nun dem Nervenzusammenbruch nahe sind, weil sie jetzt der viel zu viel gewordenen Rekonstruktionen ansichtig werden müssen? Es darf gerätselt werden: Was will uns der Essayist sagen? Die nervenärztliche Grundversorgung in Welzbachers „wildem Rekonstruktistan“ lässt jedenfalls zu wünschen übrig: Zwar sind die Therapievorschläge deutlich vernehmbar (weniger Rekonstruktion!), auch ist die Diagnose einigermaßen eingrenzbar (geht in Richtung akute oder posttraumatische Belastungsreaktion), doch die Anamnese, also das ärztliche Sondierungsgespräch mit dem Patienten, bleibt durchweg aus.

Die im Wortsinne gewichtigste – und umstrittenste – der vier Publikationen ist das von Winfried Nerdinger als Katalog der gleichnamigen Ausstellung herausgegebene Monumentalwerk Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte (2010). Auf über 500 reich bebilderten Seiten entfaltet es ein längst überfälliges Panorama einer Architekturrevolution des „Immer wieder“: Die meisten Geschichten des Bauens, so beklagt Nerdinger, verfolgen nur, „wie sich gotische Formen ausbreiteten und wann und wie sie in welchem Bauwerk in anderen Ländern erste Anwendung fanden; sie zeigen, wann die Renaissance von Italien über die Alpen kam und wie sie sich in Deutschland manifestierte und es wird analysiert, von wo Innovationen barocker Raum- und Fassadeninszenierungen ausgingen. Dass gotische Formen bis ins 18. Jahrhundert in vielen Gebieten weiterlebten, dass es immer wieder archaisierende Tendenzen gab, dass Gewölbe, Türme oder Fassadenteile bei Zerstörung in Angleichung an das noch Vorhandene rekonstruiert wurden, und dass ‚Reparaturen‘ zum Alltagsgeschäft gehörten, erscheint für die Bestimmung der Wege in die Gegenwart zumeist als unwichtig oder abseitig.“[10] Eine bis dato zumeist auf Ursprünge, Originale, Quellen, Wurzeln und Herkünfte fokussierte Architekturgeschichtsschreibung wird durch Nerdingers Herkulesarbeit ergänzt mithilfe einer fragmentarischen Geschichte der Übertragungen, der Copy-Paste-Akte, der Kontinuitäten. Der Herausgeber und viele seiner Co-Autoren protokollieren dabei nicht nur objektiv Konstruktion, Verlust und Rekonstruktion von Architektur, sie plädieren auch für eine Generalamnestie für jene Architekten und Denkmalpfleger, die sich den vielen moralisierenden oder kriminalisierenden Anti-Rekonstruktions-Verdikten in der Erbfolge der industrialisierungsschockierten Arts-and-Crafts-Bewegung widersetzten: „Eine Kopie ist kein Betrug, ein Faksimile keine Fälschung, ein Abguss kein Verbrechen und eine Rekonstruktion keine Lüge.“[11]

Leider entpuppt sich das auf der Ebene der Empirie und des Sammelns atemberaubend verdienstvolle Buch Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte als ein in sich widersprüchliches Theoriewerk, und dies bei der wohl entscheidendsten Frage: Wurde schon immer fleißig rekonstruiert oder nur beziehungsweise vor allem seit der so genannten Postmoderne, also seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert? Nerdinger beantwortet die Frage eindeutig; für ihn stellt Rekonstruktion eine Art anthropologische Konstante dar: „Rekonstruierende Wiedergewinnung ist historisch so selbstverständlich wie Bauen, Reparieren und Abreißen.“[12] Die deutlichste Gegenposition zu dieser Aussage Nerdingers beziehen in Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte die Architektursoziologen Uwe Altrock, Grischa Bertram und Henriette Horni. In ihrem Aufsatz „Bürgerschaftliches Engagement als Katalysator für Rekonstruktionen“ gehen sie davon aus „dass die aktuell zu beobachtenden Rekonstruktionsbemühungen als eine Welle beschrieben werden können, die sich im Unterschied zu früheren Perioden verstärkter Wiederaufbautätigkeit nicht aus einer direkten ‚Verlusterfahrung‘ speist, sondern vielmehr Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen innerhalb der Postmoderne ist“.[13] Als „postmodern“ betrachten die Autoren die Rekonstruktionswelle aus zwei Gründen: Erstens überwinden sie das Leitbild der städtebaulich-architektonischen Moderne; zweitens manifestiert sich in ihr ein Bürgerwille.[14] Noch expliziter relativiert Aleida Assmann die anthropologisierende These „ihres“ Herausgebers Nerdinger: „Rekonstruktion ist (...) eine neuartige kulturelle Praxis, in der sich ein verändertes Verhältnis zur Architektur und Geschichte ausdrückt.“[15] Ein Grund für die Widersprüchlichkeit zwischen den Aussagen des Herausgebers und einiger seiner Autoren liegt sicherlich in der zuweilen unscharfen begrifflichen Abgrenzung zwischen Rekonstruktion, Restaurierung, Reparatur etc.

Die manchmal defizitäre Begriffsarbeit in Nerdingers Werk bot denn auch ein bequemes Einfallstor für eine Fundamentalkritik, die in denkbar größter Aggressivität in dem von Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel und Georg Mörsch herausgegebenen Sammelband Denkmalpflege statt Attrappenkult (2011) geäußert wurde. Die Initialzündung zu dieser in der Reihe Bauwelt Fundamente erschienenen Publikation hatte ein Verriss der Nerdinger-Schau gebildet, die der Kunsthistoriker Michael S. Falser im Oktober 2010 unter dem Titel „Die Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen“ in Werk, Bauen und Wohnen veröffentlichte – der Text findet sich auch im Anhang das Bandes wieder. Falser moniert darin nicht nur Nerdingers „definitorische Inkonsistenz“,[16] sondern wirft ihm vor, „trotz einer über hundert Jahre andauernden architekturgeschichtlichen und denkmalpflegerischen Ausdifferenzierung der Standpunkte zu Wiederaufbau, Reparatur und Vollrekonstruktion bewusst wieder Unklarheit zu stiften“.[17] Der Kritiker hat wohl recht, wenn er schreibt, dass die Ausstellung gut und gerne – und vielleicht besser – Geschichte der Wiederherstellung hätte heißen müssen, „da 80 Prozent aller in der Ausstellung angeführten Fallbeispiele streng genommen keine Rekonstruktionen nach Totalverlust sind, sondern alle anderen denkbaren Wiederherstellungen umfassen“.[18] Doch indem Falser seiner in Teilen durchaus berechtigten Fachkritik eine kontraproduktive Galligkeit beimischte, die insofern durchaus ehrverletzend wirkte, als er einem verdienten Architekturhistoriker systematische Desinformation vorwarf und zudem verbal geäußerte Sätze Nerdingers in ihrem Inhalt wohl mutwillig verdrehte, musste der wissenschaftliche Disput ins Persönliche eskalieren: Der Leiter des Münchner Architekturmuseums verwahrte sich gegen die Unterstellung einer „Irreführung der Öffentlichkeit“, einer „Manipulation und wissenschaftliche(n) Unredlichkeit“, einem „absichtliche(n) Betrug sowie (dem) Missbrauch einer ‚öffentlich geförderten Bildungsinstitution‘“.[19] Nerdinger stellte Falser und seinen Mitherausgebern eine etwaige juristische Prüfung in Aussicht, woraufhin die Gegenseite eine Einschüchterungstaktik beklagte. Was verdeckt dieser unnötige, der Sache unangemessene Gelehrten-Streit? Vor allem die Notwendigkeit eines zivilen Diskurses über das Phänomen Rekonstruktion, in dem das Florett intellektueller Brillanz – und nicht die Mörser der Rechtspflege – über Wissensbildung entscheiden sollte.

Welches – neue – Wissen generiert Denkmalpflege statt Attrappenkult? Festzuhalten, dass sich darin keine sonderlich neuen Botschaften finden, ist in diesem Falle keine Kritik am Buch, sondern arbeitet einer rudimentären Habitus-Analyse bestimmter Spielarten universitärer Denkmalpflege zu. Dass Denkmalpflege statt Attrappenkult als geradezu paradoxale Kombination aus einer Streitschrift und einer Anthologie kanonischer Texte zum Denkmalschutz daher kommt, repräsentiert durchaus das Selbstverständnis einiger deutschsprachiger Lehrstühle für Denkmalpflege. Es könnte im Slogan „Die Wahrheit wurde bereits um 1900 von Dehio, Riegl und anderen geschrieben, lest einfach und versteht endlich“ zusammengefasst werden (Subtext: „Ja, auch ihr Araber, Chinesen und vor allem Japaner seid gemeint!“). Was 1900 richtig war, soll auch noch lange nach 2000 richtig sein: Die Denkmalpflege, so schreibt Falser wenig überraschend, trat „schon vor hundert Jahren mit ihrer Ablehnung der Vollrekonstruktion des Heidelberger Schlosses als moderne Disziplin und staatliche Institution ins Leben, vor ihr Publikum und vor die Presse“.[20] Die Argumente wider die Rekonstruktion, die unter Denkmalpflege-Forschern seit gefühlten Ewigkeiten mantrahaft zirkulieren, mögen noch so angebracht sein – vergegenwärtigt man sich den gutgemeinten Rapport des Altbekannten in Denkmalpflege statt Attrappenkult, dann wünschte man sich hier und da doch ein wenig mehr geistige Beweglichkeit. Drei Beispiele: Warum findet sich in einem „modern“ gerierenden Buch ein Ulrich-Conrads-Vorwort von animistischster Irrationalität, das selbst vor Aussagen wie „Dem Baudenkmal ist eine Seele eigen, es ist ein beseeltes Werk“[21] nicht zurückschreckt? Oder: Warum leisten sich manche Fraktionen der Denkmalpflege noch immer einen naiven Wahrheitsbegriff, wie er etwa im Aufsatz von Johannes Habich und dessen Verteidigung einer „Denkmalwahrheit“ aufscheint?[22] Schließlich: Warum wartet der Klappentext mit einem Vorwurf an die Simulationsingenieure von Baudenkmälern auf, einen perfiden „Attrappenkult“ zu betreiben, „der im Dienst von Geschichtspolitik, Identitätsmarketing und Kommerz kritisches Geschichtsbewusstsein korrumpiert“, so als gäbe es dieses Nirwana jenseits von Geschichte, von dem aus der „kritische Historiker“ und Niemals-auch-nur-im-Traum-rekonstruierende-Denkmalpfleger völlig frei von Geschichtspolitik wäre?

Die vier diskutierten Publikationen zum Thema Rekonstruktion führen einmal mehr die Notwendigkeit vor Augen, dieses national wie international virulente Phänomen theoretisch avancierter erklären zu können. Es bleiben viele offene Fragen, deren Beantwortung – so wie die Dinge liegen – einer anspruchsvollen Architekturanthropologie zuarbeiten dürften: Welche Katastrophen und Kriegszerstörungen führen zu Rekonstruktionen, welche nicht? Könnte die neurowissenschaftliche Unterscheidung von Stress (erinnerungsfördernd) versus Trauma (erinnerungslöschend, weil verdrängungsfördernd) eine Rolle spielen?[23] Hilft diese Unterscheidung, um die Unterscheidung von sofortigen Rekonstruktionen und Rekonstruktionen zwei oder drei Generationen später besser zu verstehen? Welche Bedeutung kann, was die transgenerationale Entschlossenheit zu Rekonstruktionen anbelangt, liegen gebliebenen Ruinen zugemessen werden? Wer der Beantwortung dieser Fragen näher kommen will, wird ebenso wie viele Denkmalpfleger sich dem Phantasma hingeben müssen, sich jenseits der Geschichte zu wähnen. Doch wird er sich zudem antrainieren müssen, zum duldsamen Darwinisten zu evolvieren, der alles goutiert, was existiert. Und vor allem: der sich niemals über die Komplexität der Gegenwart ärgert, welche sich nicht zuletzt in Rekonstruktionen äußert.



[1]Ursula Baus: „Facetten einer Begriffsgeschichte: Rekonstruktion“, in: Michael Braum, Ursula Baus (Hg.): Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema, Basel: Birkhäuser, 2009, S. 99.

[2]Vgl. ebd.

[3]Baus, „Facetten einer Begriffsgeschichte: Rekonstruktion“, a.a.O., S. 105.

[4]Michael Braum: „Editorial“, in Michael Braum, Ursula Baus (Hrsg.): Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema, Basel: Birkhäuser, 2009, S. 7.

[5]Michael Braum: „Vom Werden der Stadt. Zur Baugeschichte der Potsdamer Mitte“, in: Michael Braum, Ursula Baus (Hrsg.): Rekonstruktion in Deutschland. Positionen zu einem umstrittenen Thema, Basel: Birkhäuser, 2009, S. 33.

[6]Braum, „Editorial“, a.a.O., S. 7.

[7]Christian Welzbacher: Durchs wilde Rekonstruktistan. Über gebaute Geschichtsbilder, Berlin: Parthas, 2010, S. 35.

[8]Ebd.

[9]Ekkehardt Bartsch, Hans Wollschläger: „Karl Mays Orientreise 1899/1900“, in: Karl May: In fernen Zonen, Bamberg/Radebeul: Karl-May-Verlag, 1999, S. 42.

[10]Winfried Nerdinger: „Zur Einführung – Konstruktion und Rekonstruktion historischer Kontinuität“, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, 2010, S. 13.

[11]Nerdinger, „Zur Einführung – Konstruktion und Rekonstruktion historischer Kontinuität“, a.a.O., S. 10.

[12]Uta Hassler, Winfried Nerdinger: „Vorwort“, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, 2010, S. 6.

[13]Uwe Altrock, Grischa Bertram, Henriette Horni: „Bürgerschaftliches Engagement als Katalysator für Rekonstruktionen“, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, 2010, S. 156.

[14]Vgl. ebd.

[15]Aleida Assmann: „Rekonstruktion – Die zweite Chance, oder: Architektur aus dem Archiv“, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion. Konstruktion der Geschichte, München: Prestel, 2010, S. 17.

[16]Michael S. Falser: „Die Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen. Besprechung der Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ (2010), in: Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel, Georg Mörsch (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser, 2011, S. 207.

[17]Falser, „Die Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen. Besprechung der Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ (2010), a.a.O., S. 187.

[18]Falser, „Die Erfindung einer Tradition namens Rekonstruktion oder Die Polemik der Zwischenzeilen. Besprechung der Ausstellung Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ (2010), a.a.O., S. 207.

[19]Winfried Nerdinger:„’Denkmalpflege statt Attrappenkunst’: Zur Besprechung von Benedikt Hotze in Bauwelt 10/2011“ (http://www.bauwelt.de/cms/artikel.html?id=2573629#.Tn8Pthzq74Q, 25.09.2011).

[20]Michael S. Falser: „’Ausweitung der Kampfzone’. Neue Ansprüche der Denkmalpflege 1960-1980“, in: Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel, Georg Mörsch (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser, 2011, S. 97.

[21]Ulrich Conrads: „Zum Geleit: Auf der Suche nach einem Vor-Wort“, in: Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel, Georg Mörsch (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser, 2011, S. 7.

[22]Johannes Habich: „Zur Einführung: Worum es geht“, in: Adrian von Buttlar, Gabi Dolff-Bonekämper, Michael S. Falser, Achim Hubel, Georg Mörsch (Hrsg.): Denkmalpflege statt Attrappenkult. Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern – eine Anthologie, Basel: Birkhäuser, 2011, S. 13.

[23]Vgl. Thomas Grunwald: Gehirn und Gedudel. Warum die Fußball-Europameisterschaft das Leben verlängert, der Musikantenstadl aber nicht, TRACE Band 5, Wien/New York: Springer, 2008, S. 36.