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Der krumme Pfad des Esels

Was muss passieren, um Autotuner mit internationalen Künstlern in einem improvisierten Autokino auf dem Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants zusammenzubringen, damit diese sich gemeinsam Weekend von Jean-Luc Godard ansehen? Und welche Bedeutung können die dadurch ausgelösten Prozesse für die Stadtentwicklung haben? Unter dem Titel Planning Unplanned. Exploring the New Role of the Urban Practitioner wurde den Urhebern derartiger Prozesse, den Urban Practitioners, im November 2012 an der TU Wien ein zweitägiges Symposium gewidmet. Ernst Gruber stellt diese situative Praxis, die sich an den Schnittstellen zwischen Partizipation, Kunst im öffentlichen Raum, Stadtplanung und Kulturpraxis ansiedelt, im Folgenden vor.  

Die Veranstaltung wurde kuratiert von Mitarbeitern der TU Wien, Barbara Holub und Christine Hohenbüchler vom dortigen Institut für Kunst und Gestaltung in Kooperation mit Paul Rajakovics und Rudolf Scheuvens, sowie von Anette Baldauf und Stefan Gruber von der Wiener Akademie der Bildenden Künste. Neun Vorträge bildeten den Kern der Veranstaltung, dazu kamen in geschlossenen Workshops Vertreter der Stadt Wien mit internationalen Kulturtheoretikern, Architekten, Künstlern und Stadtaktivisten zusammen, um über die Potentiale dieser Praxis hinsichtlich ihrer Stadtentwicklungsprozesse zu berichten. Die Ergebnisse wurden anschließend dem Publikum vorgestellt. Das Symposium steht somit in einer Reihe mit Veranstaltungen wie reART the URBAN in Zürich (siehe ARCH+ 209) und dem Symposium Wirksamkeit von Interventionen, das Anfang November 2012 an der HFBK Hamburg stattfand.

Die Praxis des Ermöglichens
In ihrem Eingangsvortrag wies die Soziologin Anette Baldauf den Interessenskonflikt zwischen Nutzung und Planung oder eben zwischen Kultur und Kapital am Beispiel von New Yorks Lower East Side nach. In New York treten solche Konflikte wie an vielen anderen Orten, wo Städte die Adaptionsfähigkeit ihrer Bewohner zur Selbstvermarktung nutzen, als räumliche Verdrängungsmechanismen zu Tage, die sich an öffentlichen Räumen ablesen lassen. 

Hier öffnet sich das Interventions- und Anknüpfungspotential der Urban Practitioners, die wie der Soziologe Henri Lefebvre Raum zunächst als „etwas Produzierendes“ verstehen. Die Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen betrachten die Practicioner ganz bewusst als Gegensatz zu masterplanerischen „Top-Down Interventionen“. Themen wie gesellschaftliche Ausgrenzung oder kulturelle Reibung bilden den Zugang, um derartige Räume zu identifizieren und durch performative, prozess- und handlungsorientierte Ansätze das Vorgefundene mit Benutzergruppen in Szene zu setzen. So können unerwartete Konstellationen und Zuschreibungen entstehen. Das situative Repertoire an Handlungsstrategien der vorgestellten Projekte umfasst dabei Mittel der Inszenierung von Alltagsmomenten, wie das Beispiel einer Intervention in einer Londoner Shopping Mall zeigt, in der die Angestellten an einem eigens für diesen Zweck gefertigten Tisch zum gemeinsamen Essen geladen wurden (Torange Khonsari von „public works“). Häufig werden künstlerische Elemente in alltäglichen Umgebungen eingesetzt, was verfremdend und störend wirken kann, oder ein veranstaltungsorientierter Ansatz wie bei der Ural Industrial Biennal of Contemporary Art von Alisa Prudnikova. Der Raum wird dabei in seiner ursprünglich funktionalen Eindimensionalität durch einen soziokulturellen Aspekt aufgeweitet, wobei das Temporäre als enthemmendes Element wirkt. Durch die szenische Methodik werden die Menschen zu Handelnden in ihrer Umgebung und können über diesen oft spielerischen Zugang interessens-, schicht- und kulturübergreifend interagieren. Die Practitioner handeln meist in Kollektiven, schöpfen aus vorwiegend interdisziplinären Netzwerken und müssen über einen hohen Grad an Improvisationsfähigkeit verfügen. 

Projekte wie B1|A40: Die Schönheit der großen Straße (Markus Ambach), das 2010 im Umfeld des Autobahnkreuzes Duisburg-Kaiserberg entstanden ist, zeigen, wie sich der Handlungsspielraum von der Stadt auch auf transitorische Räume des Stadtumlandes ausdehnen lässt. Kunst und Performance werden hier eingesetzt, um vorgefundene Praktiken individueller Raumaneignung und „selbst regulierte soziokulturelle Biotope“ zu identifizieren, sichtbar zu machen und sie aus ihrer Isolation heraus in einen gegenseitigen Austausch zu setzen. Facettenreich offenbart sich, wie die Urban Practitioner über die Fähigkeit verfügen müssen, zwischen den Interessen der Politik, jenen der Wirtschaft und solchen der Bewohner zu moderieren. Aus diesem in enger Zusammenarbeit mit dem lokalen Stadtplanungsamt entstandenen Projekt entwickelt sich nun ein eigenes Forschungslabor und Beobachtungszentrum. 

Ob in der innerstädtischen Shopping-Mall oder neben dem Autobahnkreuz: Der Schritt in den öffentlichen Raum als Betätigungsfeld beschreibt einen Weg, der es erlaubt, sich zum architektonischen und planerischen Erbe zu positionieren und durch die Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen in diesen Räumen zu einer performativen Praxis der Aktivierung zu gelangen. Markus Ambach charakterisiert diesen Paradigmenwechsel wie folgt: Es sei der Übergang von der geraden Linie zum krummen Weg, also zu jener Wegführung, die Le Corbusier dem Esel zuschrieb, als Antithese zum modernistischen Konzept der Planbarkeit. In diesem Schlängeln sieht Ambach die Möglichkeit, auf unvorhergesehene Veränderungen eingehen, sie mit berücksichtigen und das Prozesshafte in die eigene Arbeitsweise integrieren zu können. Die Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin Regina Bittner interpretiert die Verlagerung der Bedeutungsebene vom Objekt des Gebauten zur Handlung in der Stadt (siehe auch ARCH+ 183 Situativer Urbanismus) als Überwindung der Moderne. Resultierte zu Zeiten der Smithsons die unter kolonialen Vorzeichen vorgenommene Untersuchung des vernakulären Straßenraumes in einer funktionalen Zuordnung und Zonierung desselben, so wird in der situativen Praxis der Alltag im öffentlichen Raum als Schwerpunkt der Betrachtung und Umsetzung eingeführt. 

Für die Praxis der Stadtentwicklung sind sowohl Teilhabe durch Mitbestimmung als auch Kunst im öffentlichen Raum längst nichts Neues. Was sich aus den vorgestellten Arbeiten ableiten lässt ist die Frage nach der Qualität solcher Methoden. Hier kommt sowohl die Auswahl der Orte als auch die mit ihnen verbundene Aktivierungspraxis zum Tragen. Die Auseinandersetzung mit Menschen und Geschichten vor Ort, die nicht kapitalisierbar seien, hält Markus Ambach für eine Möglichkeit, den Konflikt um den Begriff des kulturellen Kapitals aufzulösen. Dazu müssten diese Praktiken in Stadtentwicklungsprozesse integriert werden. 

Nach Einschätzung von Yvette Masson Zanussi vom „European Forum for Architectural Policies“ müssten Best-Practice Beispiele besonders hinsichtlich ihrer Methoden immer in dem Kontext betrachtet werden, in dem sie wirken. Nur so ließen sich entsprechende Schlüsse aus den internationalen Beobachtungen ziehen, um die Übertragbarkeit der Strategien auf andere Orte beurteilen zu können. Ihre Plattform, die sich die Etablierung architektonischer Richtlinien auf der Ebene der EU-Politik zum Ziel gesetzt hat, arbeitet mit Netzwerken wie dem österreichischen „wonderland“ zusammen, deren Projektthemen und „Calls“ in die Themen ihrer europäischen Agenden einfließen.

Parallel zu den von Künstlern und Architekten ausgeführten Projekten verläuft allerdings noch eine zweite Ebene, auf der städtische und gesellschaftspolitische Fragestellungen verhandelt werden, wie Stefan Gruber in seinem Resümee bemerkte: Jene, die ohne Direktiven und Fördermittel durch niederschwellige Medien ermöglicht werden wie die Occupy-Bewegung oder die Proteste gegen Stuttgart 21 (siehe ARCH+ 204 Krise der Repräsentation, inbesondere die Fallstudie Stuttgart 21).

Ernst Gruber

Das Symposium „Planning Unplanned. Exploring the New Role of the Urban Practitioner“ fand vom 19.-20. November 2012 an der TU Wien statt.
http://urban-matters.org/matters/news/symposium