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Empfehlung

Sabine von Fischer:

Architektur kann mehr

Rezension von Marc Angélil

Ein Sachbuch mit einer Liebeserklärung zu eröffnen, mag überraschen. Doch genau dazu hat sich die Architekturhistorikerin Sabine von Fischer mit ihrem neuen Buch entschieden, das unter dem Titel Architektur kann mehr Essays, Artikel und Interviews versammelt. In ihren eigenen Worten können Gebäude mehr „als ein Dach über unsere Köpfe setzen“, mehr „als schön oder auffällig sein“, mehr „als Energie verbrauchen“, oder mehr „als eine lineare Abwicklung von Funktionen im Raum definieren“.1

 

Die Vierte Gewalt

So optimistisch das klingen mag, gilt von Fischers Liebeserklärung einer aussterbenden Gattung – nämlich der Architekturkritik in der Tagespresse.2 Sie erinnert sich an eine Zeit, in der es die Redaktionen von Tageszeitungen als ihre Verantwortung betrachteten, sich an einer Diskussion über die Baukunst zu beteiligen, und dadurch den Wert der Architektur als kulturell bedingte sowie bedingende Disziplin hochhielten, die der öffentlichen Debatte bedarf.

Für sie ist dies kein unbekanntes Feld – ganz im Gegenteil. Neben ihrer Tätigkeit als Redaktorin bei Fachzeitschriften schrieb sie seit Mitte der Nullerjahre für die Neue Zürcher Zeitung, sowohl als freie Autorin, wie auch als festangestellte Redaktorin für Architektur und Design. In dieser Funktion publizierte sie über 400 journalistische Exposés (von denen 37 in ihrem Buch präsentiert werden) über zeitgenössische Praktiken der Gestaltung des gebauten Lebensraums, einschliesslich Artikel über Architektur, Ingenieurwesen, Infrastrukturbau, die Bauindustrie, aber auch Landschafts- und Stadtgestaltung, um nur einige der Themenbereiche zu nennen, die sie in ihrem umfangreichen Werk abdeckt.

Allerdings erlebte sie auch persönlich, wie sich das Verlagswesen in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise, aber nicht minder grundlegend änderte – eine Transformation, die durch die Digitalisierung der Prozesse in allen Lebensbereichen ausgelöst wurde, und mit der Optimierung von Arbeitsabläufen, der Diversifizierung von medialen Formaten und der Auslagerung von Dienstleistungen einherging, die auch zur Auflösung der unternehmensinternen Arbeitskräfte führte. Zeitungen sind durch Plattformen ersetzt worden; das geschriebene Wort unterliegt der Macht des Bildes; Reportagen werden von Soundbites abgelöst; statt Lesen, Surfen. Unter dem Vorwand scheinbar unvermeidlicher und wirtschaftlich begründeter Umstrukturierungsmassnahmen sind ganze Abteilungen aus den Redaktionen verschwunden. Darunter auch jene, die sich mit der gebauten Umwelt befassen. Es erstaunt folglich nicht, dass die öffentliche Diskussion über Architektur kompromittiert, wenn nicht gar vollständig ausgelöscht wurde.

Gekonnt dreht von Fischer den Spiess um. Was auf den ersten Blick wie eine Liebeserklärung erscheint, erweist sich tatsächlich als eine Kritik, ergänzt durch ein Plädoyer für die Förderung der öffentlichen Diskussion über Architektur ebenso wie über die Kräfte, die am Werk sind bei der Erschaffung der Lebensräume, die wir gemeinsam bewohnen. Die Auseinandersetzung mit diesen Belangen ist ihrer Meinung nach eine der zentralen Aufgaben der Presse als Vierte Gewalt.

Dies ist eine der entschiedenen Botschaften des Buches. So schreibt von Fischer: „Die Möglichkeiten des Bauens öffentlich zu diskutieren, ist nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Insbesondere so, wenn die Veränderungen von Gesellschaft und Klima so viele beunruhigen. Architektur kann viel mehr als Geldwerte sichern und Eitelkeiten befriedigen: Sie kann – wenn sie gut gemacht ist – Raum für sozialen Zusammenhalt schaffen, die Sinne anregen, politisch sein und Verantwortung für die Klimaziele mittragen.“3 In gleichem Masse, wie Architektur mitverantwortlich ist für die Räume, die wir täglich bewohnen, trägt sie auch zu den Problemen und Herausforderungen bei, denen wir uns stellen müssen. Sie muss daher in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Architektur ist eine öffentliche Angelegenheit und muss dies auch bleiben!

 

Akteur Architektur

Aller Kritik zum Trotz ist die Botschaft des Buchs optimistisch. Von Anfang an wird deutlich, dass die Essays von Fischers tiefe Liebe zur Architektur zum Ausdruck bringen. Die anfängliche Liebeserklärung kann, mit anderen Worten, auf weitere Adressaten ausgeweitet werden: allen voran die physisch-materielle Umwelt, von der die Architektur ein konstituierender Bestandteil ist.

Statt über den Zustand der Disziplin zu klagen und der Architektur die Schuld für alle möglichen Übel der Welt zu geben, wie es in zeitgenössischen akademischen Debatten so oft geschieht, arbeitet sie Schritt für Schritt die Bedingungen heraus, in denen sich ein bestimmtes Projekt entwickelte, und hebt dadurch dessen Erfolge und Unzulänglichkeiten für die Gesellschaft als Ganzes hervor. Dabei scheut sie sich nicht, darauf hinzuweisen, welche Verbesserungen möglich gewesen wären oder immer noch sind.

Gewissermassen argumentiert von Fischer, dass die Dinge und Objekte, die uns umgeben – Architektur eingeschlossen – nicht leblos sind. Sie sind nicht passiv, sondern vielmehr handelnde Akteure und bestimmen die Kontexte, in denen wir agieren. So gesehen vermittelt der Titel Architektur kann mehr eine grundlegende Aussage, indem er auf das performative Potenzial des Bauens als Prozess ebenso wie auf jenes der Bauten als Artefakte verweist.

Es lassen sich Parallelen ziehen zu einer Reihe von zeitgenössischen Denkerinnen wie Isabelle Stengers, Donna Haraway, Maria Puig de la Bellacasa, aber auch zu Bruno Latour. So ginge Sabine von Fischer wohl mit ihm einher, dass Tatsachen (matters of fact) – das heisst Objekte, Dinge, Gebäude, Infrastrukturen, urbane Gefüge und so weiter – immer eng verbunden sind mit Dingen von Belang (matters of concern). Demnach haben Tatsachen die Fähigkeit, Akteur-Gemeinschaften um sich zu versammeln. Das heisst, dass die Dinge, um die wir uns scharen, mit uns gemeinsam eine Versammlung bilden. Dinge sind immer sozial-räumliche, sozial-technische, sozial-ökologische Assemblagen. Sie sind nicht nur materielle Konstruktionen, die im Prozess der Erbauung der Welt eingesetzt werden, sondern aktiv an diesem Prozess beteiligt. Sie verfügen über Handlungsfähigkeit, sind politisch und scheinen bisweilen gar ihren eigenen Willen auszuüben. Artefakte haben etwas zu sagen, und folglich muss ihnen ihre Stimme zugestanden werden. „Die Daseinsberechtigung unabhängiger Architekturkritik“4, argumentiert von Fischer, ist es, Dingen eine Stimme zu geben.

Dieser Standpunkt wird durch die vierteilige Struktur des Buches explizit verdeutlicht. Anstatt die Essays nach ihrem Erscheinungsdatum in der Presse chronologisch zu präsentieren, gruppiert sie von Fischer anhand spezifischer „Dinge von Belang“, bei denen Architektur eine aktive Rolle einnimmt.

Kapitel 1, „Zusammen leben“, behandelt, wie zeitgenössische urbane und territoriale Konstellationen die nötigen Rahmenbedingungen für gemeinschaftliche Lebensräume schaffen könnten. Die steigende Nachfrage nach einer immer grösseren Dichte des städtebaulichen Gefüges steht dem Bedürfnis nach öffentlichem Freiraum gegenüber. Architektur kann die zivilgesellschaftliche Sphäre bereichern. Wenn dieses Hochhaus auf Erdgeschossebene mit der Stadt in einen Dialog zu treten vermag, bemerkt sie, warum schafft es jenes Hochhaus nicht, die Stadt auch nur anzuerkennen?

Kapitel 2, „Politische Konstellationen“, betont, dass Architektur wesentlich mit den vorherrschenden Machtstrukturen verwoben ist. Die wiederholte Komplizenschaft der Architektur mit politischen und wirtschaftlichen Ordnungen wird im Hinblick auf ihr Potenzial als Agens demokratischer Vertretung und räumlicher Gerechtigkeit untersucht. Architektur kann soziale Beziehungen fördern. Wenn dieses Haus seinen Bewohnenden Raum für Teilhabe gewährt, bemerkt sie, warum schert sich jenes Haus keinen Deut um sie?

Kapitel 3, „Die Sorge um Umwelt und Klima“, behandelt die Herausforderungen für die Architektur im Zeitalter des Klimawandels. Die schädlichen Auswirkungen der Baubranche auf Ökosysteme werden aufmerksam evaluiert im Hinblick auf das Potenzial der Architektur, ihre Umweltbelastung zu vermindern. Architektur kann Bedingungen schaffen, die mit der Umwelt ein Gleichgewicht bilden. Wenn dieses Gebäude imstande ist, mikroklimatische Begebenheiten passiv zu verbessern, bemerkt sie, warum benötigt jenes Gebäude so viel Technologie, um dasselbe zu erreichen?

Kapitel 4, „Verwickelte Wahrnehmungen“, wirft ein Schlaglicht auf die Vorstellung, dass Architektur immer affektiv wahrgenommen wird. Hier untersucht von Fischer, inwiefern Architektur angesichts der vielfältigen und widersprüchlichen Herausforderungen einen Beitrag zur alltäglichen ästhetischen Kultur leisten kann, ohne auf übertriebene Formen zurückzugreifen. Architektur kann die kollektive Erfahrung von Kultur fördern. Wenn dieser Bau in seiner ganzen Gewöhnlichkeit dem Auge gefallen kann, bemerkt sie, ist es dann nötig, dass jener Bau nichts anderes tut, als Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen?

Auch wenn sie einzeln behandelt werden, überschneiden sich die vier Kapitel und verdeutlichen, dass die Wirkkraft der Architektur nicht klar abgegrenzt werden kann, sondern bereichsübergreifend immer wieder neu verhandelt werden muss. Die Essays und Interviews greifen ineinander, wenngleich sie im Abstand von Jahrzehnten geschrieben wurden. Sie bilden ein klug gespanntes Netz von Assoziationen und Verbindungen, das sich über das ganze Buch erstreckt. In erster Linie, so von Fischer, ist die Handlungsfähigkeit der Architektur eine Konstruktion, die angemessen gepflegt werden muss, so wie man ein Zuhause, ein Gebäude, oder eigentlich jegliche Form von Architektur pflegen sollte. Aus dieser Perspektive könnte man folgern, dass Architektur vor allem ein «Ding zum Umsorgen» (matter of care) ist, und das vollbringt von Fischer gekonnt.

 

Schreiben aus Leidenschaft

Sorgfalt wurde auch der Schreibkunst gewidmet. Jedes Wort wurde mit Bedacht ausgewählt, jeder Satz auf den Punkt gebracht, Form und Inhalt stimmen überein. «Das Schreiben ist mir als Leidenschaft geblieben», hält von Fischer fest, und dies bringt sie in ihren Texten über die Baukunst treffend zum Ausdruck.5 Eine Liebe wird von der anderen gespiegelt. Geprägt von einer Ökonomie der Mittel, besticht ihre Sprache durch Prägnanz. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und stösst direkt zum Kern der Sache vor. Dadurch verleiht sie den Themenkomplexen eine grössere Wichtigkeit als den besprochenen Projekten.

Komplexe Angelegenheiten müssen direkt vermittelt werden, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, fordert von Fischer. Sie vermeidet Vereinfachungen und wird der wesentlichen Komplexität der behandelten Themenfelder gerecht, insbesondere für ein Publikum, das an einer fundierten Diskussion über die Baukultur interessiert ist.

Kritik kann als eigene Kunstform betrachtet werden, die sie in ihrem Schreiben ausgezeichnet umsetzt. Angenommen, Architektur sei ein Text (oder im linguistischen Jargon eine Textkonstruktion), dann könnte man sagen, von Fischer agiere mit dem Text, bisweilen gegen den Text, und letztlich für den Text. Durch diese Art der Kritik kommt ihre Liebe zur Architektur am deutlichsten zum Ausdruck – fair, doch mit analytischem Geist und intellektueller Schärfe.

Sollte dies übermässig ernst klingen, besteht kein Grund zur Sorge. Ihre Texte sind voller Humor. Aussagen wie: «Ein Haus ist ein Haus und kein Kühlschrank» oder «Ein paar Bäume in 50 Metern Höhe sind kein Wald», aber auch «Augenweide darf die Architektur sein, aber nicht Augenwischerei», sind so witzig wie kritisch.6 Bekanntlich kann Humor als wesentliches Mittel der Kritik dienen.

Ihr Talent, die Kernargumente ihrer Texte darzulegen, unterstreicht die Wirkung ihrer hochstehenden Sprachfertigkeit. So sind zum Beispiel ihre Interviews schlicht brillant. Entweder fallen sie äusserst kurz aus und kommen ohne Umschweife direkt zum Punkt, wie jene mit Anne Lacaton, Saskia Sassen und Francis Kéré. Oder sie bewegen sich zwischen Dialog und Kommentar, wodurch sich ein Interpretationsspielraum eröffnet – eine Technik, die sie beispielsweise in ihren Gesprächen mit Jacques Herzog, Rem Koolhaas und Peter Zumthor anwendet. Desgleichen legen die neu verfassten Einleitungen der Kapitel den Grundstein für ihre Argumentation – auch wenn sie lange nach den zugehörigen Essays geschrieben wurden. Sie bilden sozusagen die Bühne für eine Handlung, die sich erst bei der weiteren Lektüre entfalten wird.

Zum Schluss noch einige Worte zum Buch als Artefakt. Ein Kompliment muss der Grafikdesignerin Esther Rieser ausgesprochen werden für ihre Umsetzung der Architektur des Buches und der visuellen Choreografie. Gedruckt auf zeitungsähnlichem Papier, liegt das Buch im Taschenformat perfekt in der Hand. Es besteht kein Zweifel, dass dieses Objekt mit Sorgfalt entworfen wurde.

Und wenn auch diese Rezension wie eine Liebeserklärung klingt, dann schlicht und ergriffen, weil es eine ist.

Aus dem Englischen übersetzt von Lena Maria Dreher

Fußnoten

1 Sabine von Fischer: Architektur kann mehr – Von Gemeinschaft fördern bis Klimawandel entschleunigen, Basel 2024, S. 14

2 Ebd.

3 Ebd., Klappentext

4 Ebd., S. 246

5 Ebd., S. 17

6 Ebd., S. 154, 149, 153

Sabine von Fischer: Architektur kann mehr – Von Gemeinschaft fördern bis Klimawandel entschleunigen

Birkhäuser Verlag, 2024 (Erscheinungsdatum: November 2023)

Sprache: Deutsch

Euro 42.00

256 Seiten, 60 Illustrationen

Schwarz und weiss, mit einigen Drucken in Farbe

ISBN: 978-3-0356-2741-1

eBook ISBN: 978-3-0356-2742-8