Auf den Spuren der Bauhaus-Moderne
Der Begriff „Bauhaus-Moderne” umfasst sowohl die Ideengeschichte der drei Bauhaus-Schulen – Weimar, Dessau und Berlin –, die Geschichte ihrer Protagonisten und ihrer Werke, als auch die Geschichte ihrer anschließenden Diaspora-Existenz und die moderne Architektur, die mit dieser Bewegung verbunden ist. Da der Raum der Moderne heute fragmentiert scheint, widmet sich diese Ausstellung der Frage, wie ein zerstreuter Wissenskorpus neu erfasst, wieder zusammengefügt und neu gedeutet werden kann.
In dieser Ausstellung stellt das Centre for Documentary Architecture, einem grenzüberschreitenden und Open-Data-Ansatz folgend, Methoden der „dokumentarischen Architektur“ vor, der es seinen Namen verdankt, um mithilfe von digitalen Forschungsmethoden und Archiven eine Geografie der „Bauhaus-Moderne” zu eröffnen. Denn in der Materialität von Gebäuden lässt sich erkennen, wie sich historische und politische Kräfte manifestieren.
Die konzeptuelle Matrix dieser Ausstellung organisiert sich entlang zweier Achsen: Material und Daten – Matter and Data. Sie basiert auf einem wachsenden digitalen Archiv, das vom Centre for Documentary Architecture zusammengetragen wird. Das Archiv umfasst Materialanalysen, Dokumentationen und Interviews und widmet sich der Geschichte der Moderne und ihrer diversen Nachleben.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Materialdokumentation und digitale Analyse des Max-Liebling-Hauses, das 1937 von Dov Karmi in Tel Aviv fertiggestellt wurde. Die Untersuchung des Gebäudes führt den Betrachter an eine Reihe von Orten und durch verschiedene Zeiten, Maßstäbe und Dauern. Der Entwurf des Gebäudes wird zurückverfolgt zu Debatten, die in deutschen und europäischen Architekturschulen der Zwischenkriegszeit geführt wurden, die mit dem Bauhaus in Verbindung standen. Die Betrachtung verknüpft die Geschichte der Bewohner des Hauses mit den Fluchtlinien von Exil und erzwungener Auswanderung nach dem Aufstieg des Hitler-Regimes. Sie findet Spuren von Baumaterialien, die aus Nazi-Deutschland nach Palästina importiert wurden, und betrachtet das Wachstum der Weißen Stadt in Tel Aviv im Verhältnis zum Erscheinen weiterer moderner Städte an verschiedenen Orten des „Orients“.
Die Ausstellung, zu der eine Videowand, eine umfangreiche Datenplattform, ein Tisch mit einer Archivpräsentation mit Dokumenten, Interviews und Gegenständen, ein Modell und ein Webteppich gehören, zeigt Architektur als Verdichtung komplexer historischer und politischer Beziehungen, Bewegungen und Ströme, von Material und Daten.
The Materiality of Bauhaus Modernism
“Bauhaus modernism” refers to the narratives of the three Bauhaus schools — Weimar, Dessau and Berlin; the stories of their protagonists and works; the diaspora that resulted from the Bauhaus; and the modern architecture associated with this movement. As the space of modernism seems so utterly fractured, this exhibition is devoted to the question of how we can capture, reconnect to and reengage a diffused body of knowledge.
In this exhibition, following a cross-border and an open-data approach, the Centre for Documentary Architecture presents the methods of its namesake, “documentary architecture”. Using digital research techniques and archives, it aims to open up a geography of “Bauhaus modernism”. For it is in the materiality of buildings that historical and political forces can be seen to manifest themselves.
The conceptual matrix that comprises this exhibition is thus organized along two axes: matter and data. This exhibition is based on a growing digital archive collected by the Centre for Documentary Architecture. This archive includes material analysis, documentations and interviews as it engages with the history of modernism and its various afterlives.
At the centre of this exhibition is a material documentation and digital analysis of the Max Liebling House built by Dov Karmi in Tel Aviv in 1937. This study of the building takes the viewer across different locations and periods, scales and durations. The design of the building is traced to debates undertaken in architectural schools associated with the modernist movement in Germany and in Europe during the interwar period, including the Bauhaus. It connects the story of the building’s inhabitants to trajectories of exile and forced migration after the rise of the Hitler regime. It finds traces of the building materials imported to Palestine from Nazi Germany, and it looks at the growth of Tel Aviv’s White City in relation to the emergence of other modernist cities across the “Orient”.
Including a video wall, a comprehensive data platform, a table presenting an archive of documents, interviews and objects, a model and a woven carpet, the exhibition thus presents architecture as a solidification of complex historical and political relations, movements and flows, of matter and data.
Videowand / Video Wall, Deep White
8 Monitore / screens, 30:00 min, CDA 2019
Das Max-Liebling-Haus in Tel Aviv ist ein Prisma, in dem sich zahlreiche Geschichten verbinden und brechen. Diese Videoinstallation auf acht Monitoren verknüpft die Geschichte der Bewohner des Hauses mit denen jüdischer Bauhaus-Studierender, die in das Mandatsgebiet Palästina kamen. Sie verbindet das Wachstum Tel Avivs vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Import von Baumaterialien aus Nazi-Deutschland und lenkt den Blick über die Grenzen Palästinas auf die Entwicklung der Bauhaus-Moderne jenseits der Sykes-Picot-Linie.
The Max Liebling House in Tel Aviv is a prism through which different histories are entangled and diffracted. This 8-screen video installation brings together the story of the inhabitants of the house with those of the Jewish students at the Bauhaus who had arrived in Mandatory Palestine. It combines the growth of pre-World War II Tel Aviv with the import of building materials from Nazi Germany and then looks beyond the border of Palestine to the development of Bauhaus modernism across the Sykes-Picot line.
Tisch / Table
2 Bildschirme / screens, 1 Arbeitsplatz / workstation, diverse Gegenstände / various objects, CDA, 2019
Auf diesem Tisch wird eine kuratorisch ausgewählte Folge von Einträgen aus dem digitalen Archiv präsentiert, und zwar in Form eines Arbeitstisches. Darunter befinden sich Dokumente, Interviews, Videos und Gegenstände. Diese beispielhaften Einträge wurden ausgewählt, um potenzielle Knoten des Netzwerks sichtbar zu machen, das das Liebling-Haus mit der Zeit seiner Errichtung verbindet. Diese Einträge sollen auch das Material ergänzen, das auf der Videowand im selben Raum zu sehen ist. Die Dateinamen verweisen darauf, wo das Material auf der CDA-Plattform abgelegt ist.
This table presents a specially curated sequence of entries from the digital archive, staged as a work desk. These include documents, interviews, videos and objects. These sample entries have been chosen to represent possible nodes in a network that connects the Liebling House to the time in which it was built. These entries are also meant to supplement the material included in the video wall in this same room. The filenames refer to their position in the CDA platform.
Digitales Archiv / Digital Archive
CDA, 2019 [fortlaufend / in progress]
Das digitale Achiv der Plattform, die über den Computerarbeitsplatz auf dem Tisch zugänglich ist, umfasst verschiedene Medien, darunter Interviews, Materialuntersuchungen, Fotografien und Funde aus Archiven, die bei den Recherchen des CDA zusammengetragen wurden. Als in Weiterentwicklung befindliches Tool richtet sie sich sowohl an Historiker als auch an die interessierte Öffentlichkeit. Das Archiv soll neue Zugänge zur physischen Materialität der von uns untersuchten Objekte – Artefakte, Gebäude, Umgebungen – ermöglichen, aber auch das Gewebe von Beziehungen, Verbindungen, Mustern kartografieren, in dem sich diese materiellen Gegenstände befinden.
Um mit neuen Möglichkeiten der Verknüpfung von analogen und digitalen Informationen zu experimentieren, wurde ein Teil der Archivplattform so entwickelt, dass die Architektur des Max-Liebling-Hauses selbst die Struktur der Datendarstellung wird, um die „Tiefenerinnerung“ des Gebäudes freizulegen und zu erzählen. Es wurden vier virtuelle „Wanderungen“ durch das Haus angelegt, die einen Zugang zu den verschiedenen Themen unserer Untersuchung ermöglichen. The digital archive of the data platform, presented on the workstation on the table, contains a variety of media, ranging from interviews and material studies to photography and archival research collected by the CDA. As a tool under construction, it is meant both for historians and for the interested public. The archive simultaneously engages with finding new access to the physical materiality of the objects of our analysis — artefacts, buildings, environments — and attempts to chart the web of relations, connections and patterns in which these material objects are nested.
To experiment with new possibilities of intersecting analogue and digital data, we developed one part of the archive platform so that the architecture of the Max Liebling House has become the very structure of unpacking and narrating the building’s “deep memory” in the platform. We have scripted four virtual “promenades” through the house that give users access to various themes of our investigation.
documentary-architecture.org
Modell / Model
1:50, Sperrholz / plywood, CDA, 2019
Dieses Modell des Max-Liebling-Hauses im Maßstab 1:50 repräsentiert die Wege der vier virtuellen „Wanderungen“ durch das Haus: 1. Die Geschichte der Bewohner (gelb), 2. Die Geschichte der Baumaterialien (rot), 3. Die Geschichte architektonischer Objekte (blau), 4. Die Farbgeschichte des Hauses (grün).
This 1:50 model of the Max Liebling House represents the four “promenades” through the house: 1) the story of the inhabitants [Yellow]; 2) the story of the building materials [Red]; 3) the story of architectural objects [Blue]; and 4) the colour history of the house [Green].
Teppich / Carpet
Baumwolle / cotton, Schurwolle / virgin sheep’s wool, Jute, CDA, 2019
In Zusammenarbeit mit einer Textildesignerin, einer Farbexpertin und Färbern aus Neckeroda, einer Ortschaft in der Umgebung Weimars, die ausschließlich natürliche Färbemittel verwenden, hat das CDA zwei Teppiche hergestellt, von denen einer in Weimar und der andere in Tel Aviv gezeigt wird. Die Wolle der Teppiche wurde mit natürlichen Farben und Farbpigmenten gefärbt, die der Farbrekonstruktion entsprachen, die von Konservatoren vor Ort in Tel Aviv und in Weimarer Labors mithilfe mikroskopischer Untersuchungen vorgenommen wurde.
Two carpets, one displayed in Weimar, another one in Tel Aviv, were produced in collaboration between the CDA and a textile designer, a colour expert, and dyers from Neckeroda, a village in the Weimar region committed to using only natural colours. The wool of the carpets was dyed in natural paint and colour pigments according to the colour reconstruction that has been studied by conservationists on site, and in laboratories and microscopic studies in Weimar.
Das Centre for Documentary Architecture (CDA) ist ein interdisziplinäres Forschungskollektiv, das Gebäude und gebaute Umgebung als Dokumente und Archive begreift, in die Geschichte eingeschrieben ist. Das CDA ist ein Zusammenschluss von Architekt*innen, Filmemacher*innen, Künstler*innen, Historiker*innen und Theoretiker*innen, unter Leitung von Prof. Ines Weizman (Bauhaus-Universität Weimar, Direktorin des Bauhaus Instituts), die sowohl gemeinsam als auch individuell an Forschungsprojekten in umstrittenen Räumen oder Zeiten arbeiten, in denen Architektur als ein Zeugnis von politischen Beziehungen und Veränderungen dient.
The Centre for Documentary Architecture (CDA) is an interdisciplinary project that explores buildings as documents and built environments as archives in which history is inscribed. The CDA team is composed of architects, filmmakers, artists, historians and theorists, under guidance of Prof. Ines Weizman (Bauhaus-Universität Weimar, Director Bauhaus Institute) who undertake a number of collective and individual research projects in contested areas or historical periods where architecture could be used as a registrar of political relations and transformations.
www.documentary-architecture.org